Narzissten sind kraftvolle Menschen voller Widersprüche

Mitja Back schlägt in seinem neuen Buch „Ich! Die Kraft des Narzissmus“ eine Brücke zwischen dem anhaltend hohen Interesse am Narzissmus und der aktuellen Forschung. Er zeigt dabei, dass der Narzissmus neben herausfordernden Aspekten für die Mitmenschen auch positive Seiten hat. Narzissten können zum Beispiel andere Menschen begeistern und stoßen in ihrem Drang nach Anerkennung oft Innovationen und Fortschritt an. Offensichtlich tun sie Dinge, die vielen Menschen auf den ersten Blick gefallen. Mitja Back ist seit Jahren fasziniert von Narzissten. Von Menschen, die nicht „ich?“ fragen, sondern „Ich!“ in die Welt rufen. Narzissten sind kraftvolle Menschen voller Widersprüche. Sie interessieren sich scheinbar nur für sich selbst und sind doch auf andere angewiesen. Denn: Ohne Publikum und Applaus keine Bewunderung. Mitja Back ist seit 2012 Professor für Psychologische Diagnostik und Persönlichkeitspsychologie an der Universität Münster.

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Silvio Vietta kennt den Wert der Demokratie

Silvio Vietta kann im Rückblick auf die Geschichte der Demokratie viele Argumente für sie ausfindig machen. Erstens: Die Demokratie entsteht mit der Ersten Aufklärung in der Antike als eine Art Entmythisierung der Vorstellung, die Götter oder ein Gott lenke die Geschichte. Der Mensch als Gattungswesen muss daher selbst „erwachsen“ werden, und seine Politik wie Geschichte selbst verantworten. Silvio Vietta stellt fest: „Demokratie bedeutet in diesem Sinne einen Reifungsprozess der ganzen Menschheit.“ Zweitens: Schon Perikles in der antiken Demokratie stellt diese selbst in den Zusammenhang einer Mündigwerdung der demokratischen Polis und auch des einzelnen Bürgers. Dieser muss ja nun die Verantwortung für seine Geschicke selbst in die Hand nehmen und sollte daher kulturell gebildet, gut informiert und persönlich gereift sein. Prof. em. Dr. Silvio Vietta hat an der Universität Hildesheim deutsche und europäische Literatur- und Kulturgeschichte gelehrt.

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Selbstgewählte Identitäten bergen Gefahren in sich

Amartya Sen betont die Bedeutung der wohlüberlegten Entscheidung für selbstgewählte Identitäten. Nämlich um die Zuschreibung ausschließlicher Identitäten abzuwehren. Und so zu verhindern, dass Menschen sich für Kampagnen mobilisieren lassen, in man gebrandmarkte Opfer terrorisiert. Viele Greueltaten auf der Welt gehen auf Kampagnen zurück, in denen man selbstgewählte Identitäten gegen zugeschriebene austauschte. So verwandelten sich alte Freude in Feinde und widerliche Sektierer schwangen sich zu mächtigen politischen Führern auf. Amartya Sen erläutert: „Es ist daher eine anstrengende und äußerst wichtige Aufgabe, im identitätsbezogenen Denken den Elementen der Vernunft und der freien Wahl Geltung zu verschaffen.“ Denn ist gibt tatsächlich Alternativen zwischen denen Menschen wählen können. Amartya Sen ist Professor für Philosophie und Ökonomie an der Harvard Universität. Im Jahr 1998 erhielt er den Nobelpreis für Ökonomie.

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Universalgelehrte wollen das Wissen vereinheitlichen

Was veranlasste Gelehrte früherer Zeiten, derart viele unterschiedliche Themen zu studieren? Im Falle Conrad Gessners mag es schlicht und einfach eine füchsische Neugier gewesen zu sein. Davon abgesehen dürften seine leidenschaftliche Ordnungsliebe und sein Bedürfnis, die „Unordnung der Bücher“ zu beseitigen, fraglos eine gewissen Rolle gespielt haben. Peter Burke fügt hinzu: „Bei anderen Universalgelehrten, den „Igeln“ war das Hauptziel die Vereinheitlichung des Wissens.“ Pico della Mirandola zum Beispiel bietet das eindeutige Beispiel eines Universalgelehrten, der vom Wunsch getrieben ist, widerstreitende Ideen – etwa die von Platon und Aristoteles – in Einklang zu bringen. Sechzehn Jahre lehrte Peter Burke an der School of European Studies der University of Sussex. Im Jahr 1978 wechselte er als Professor für Kulturgeschichte nach Cambridge ans Emmanuel College.

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Nachhaltigkeit ist ein umfassendes Konzept

Das neue Denken über die Nachhaltigkeit ist unzureichend. Katia Henriette Bachhaus erläutert: „Darüber nachzudenken, wie die Welt und ihre Menschen nachhaltiger werden könnten, ist zu wenig für das, was Nachhaltigkeit verlangt. Denn das Konzept der Nachhaltigkeit ist so sehr ein theoretisches wie ein praktisches. Und nachhaltige Praxis reicht von politischer Gesetzgebung bis in den individuellen Alltag hinein.“ Die Bedeutung der praktischen Seite der Nachhaltigkeit wird jedoch von politiktheoretischen und umweltethischen Ansätzen zuweilen vernachlässigt. Manche Autoren sprechen von einer regelrechten Lücke zwischen der Theorie ökologischer Werte und einer ökologischen Handlungstheorie. Doch das praktische Veränderungen aus theoretischer Überzeugung geschehen, ist eine zu große Hoffnung. Katia Henriette Backhaus hat an der Universität Frankfurt am Main promoviert. Sie lebt in Bremen und arbeitet als Journalistin.

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Jede Meinung ist zunächst zu gut wie jede andere

Die Idee einer parlamentarischen Demokratie ist darauf angelegt, durch Debatten einen Konsens zu erzeugen, der vorher nicht bestand. In den Konsens sollen, wie bei einem Kompromiss, verschiedene Perspektiven mit einfließen. Damit soll sichergestellt werden, dass möglichst viele Bevölkerungsgruppen, in die sich die Wählerschaft einteilt, repräsentiert sind. Markus Gabriel erklärt: „Im Raum der freien Meinungsäußerung ist somit zunächst einmal jede Meinung so gut wie jede andere.“ Ob sie auch wahr ist, spielt scheinbar keine Rolle. Deshalb führt diese Vorstellung dazu, dass man den Wert der Wahrheit in ethisch dringlichen und schwierigen Fragen durch Strategien der Kompromisslösung ersetzt. Markus Gabriel hat seit 2009 den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne. Zudem ist er dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.

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Freiheit und Gleichheit gehören zu den Grundrechten

Immanuel Kants kleine Schrift „Zum ewigen Frieden“ hat spätestens mit der durch sie angeregten Gründung des Völkerbunds 1919 einen weltpolitischen Rang erhalten. In ihr werden im ersten Definitionsartikel, der die Staaten auf eine republikanische Verfassung verpflichtet, drei Prinzipien genannt. Diese seien unbedingt zu beachten. Volker Gerhardt stellt fest: „Zwei der Prinzipien, nämlich die Freiheit und die Gleichheit der Bürger, sind uns aus den Grundrechtskatalogen bekannt.“ Aber das zwischen ihnen stehende dritte Prinzip der Abhängigkeit aller Bürger „von einer einzigen gemeinsamen Gesetzgebung“ ist erklärungsbedürftig. Denn in einer offenen Welt, in der man seinen Wohnort selbst bestimmen kann, wirkt die Bindung an die Gesetzgebung eines einzigen Staates befremdlich. Volker Gerhardt war bis zu seiner Emeritierung 2014 Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität in Berlin.

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Der Mensch muss sich von der Herde abkehren

Michel de Montaigne entdeckte eine Generation nach Martin Luther seine Einzelheit und gewann Abstand zu sich und den anderen. Dabei fühlte er sich nicht wie Luther der Majestät eines Gottes ausgeliefert, sondern der obskuren Majestät der Menge. In seinem Essay „Über die Einsamkeit“ heißt es: „Daher ist es nicht genug, sich von der Herde abgekehrt zu haben, es ist nicht genug den Ort zu wechseln. Vom Herdentrieb in unserem Inneren müssen wir uns abkehren, zukehren aber dem eigenen Selbst, um es wieder in Besitz zu nehmen.“ Rüdiger Safranski erläutert: „Für Luther ist das eigene Selbst vollkommen korrumpiert von der Sünde.“ Rüdiger Safranski arbeitet seit 1986 als freier Autor. Sein Werk wurde in 26 Sprachen übersetzt und mit vielen Preisen ausgezeichnet.

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Die Gelassenheit führt zu einem glücklichen Leben

Gerhard Gleißner behauptet in seinem neuen Buch „Gesund leben mit dem Stoizismus“, dass jeder, der den Stoizismus praktiziert, mit großer Wahrscheinlichkeit seelisch gesund bleibt. Ebenso ist die Aussicht geringer, körperlich zu erkranken und die Chance höher als Kranker leichter wieder zu gesunden. Zugleich zeigt und beweist der Autor, dass der Stoizismus tatsächlich eine der effektivsten Methoden darstellt, die eigene Gesundheit günstig zu beeinflussen. Gerhard Gleißner schreibt: „Die Gelassenheit oder stoische Seelenruhe (altgriechisch „ataraxia“) ist das eigentliche Ziel allen stoischen Bemühens, sie führt uns zum glücklichen Leben.“ Die „ataraxia“ ist der Lohn dafür, wenn man es schafft, das Schicksal zu akzeptieren. Wem es gelingt, alles, was kommt, gelassen zu ertragen, ist ein guter Stoiker. Dr. med. Gerhard Gleißner ist seit 2014 als Amtsarzt und Gutachter im öffentlichen Gesundheitsdienst tätig.

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Künstliche Intelligenz beeinflusst das Leben grundlegend

Das Titelthema des Philosophie Magazins 06/2023 beschäftigt sich mit den Chancen und Gefahren der künstlichen Intelligenz. Denn spätestens seit der Veröffentlichung der Sprachsoftware ChatGPT des Unternehmens OpenAI im November vergangenen Jahres nämlich ist klar, dass es eine Zeit vor und eine nach der breitenwirksamen Anwendung künstlicher Intelligenz gibt. Dominik Erhard, der die Redaktionsleitung Online des Philosophie Magazins innehat, erklärt: „Künstliche Intelligenz, das meint an dieser Stelle Maschinen und Software, die zu menschenähnlichen Intelligenzleistungen fähig sind. Dies kann beinhalten, dass sie lernen, schlussfolgern, Probleme lösen, sich an Umweltbedingungen anpassen oder Aufgaben der Sprach- und Bilderkennung durchführen.“ Und so scheint die Frage, ob künstliche Intelligenz (KI) heutiges und künftiges Leben auf der Erde grundlegend beeinflusst, überflüssig, weil man sie eindeutig mit Ja beantworten kann.

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Die Kleintiere sind nicht für die Fische da

Eines möchte Josef H. Reichholf vorweg klarstellen: „Die Kleintiere in den Fließgewässern sind nicht für die Fische da. Die Fische nutzen, was es gibt und was sie verwerten können. Aber die Larven von Wasserinsekten, die Kleinkrebse oder Würmer im Bodenschlamm leben für sich und nicht für Fische oder für andere Nutzer wie die Wasservögel.“ Dies betont Josef H. Reichholf ausdrücklich, weil seitens der Fischerei diese Ansicht vertreten wird. Denn mit gleicher Berechtigung könnten Vogelschützer die Fische als „Vogelnährtiere“ einstufen. Der Bezug der Nutzer, der Fische, wie der Vögel, die von Fischen leben auf ihre Nahrungsgrundlage entspricht den natürlichen Begebenheiten. Nicht gerechtfertigt wäre, dies nur für die Fische gelten zu lassen, nicht aber für andere Tiere. Josef H. Reichholf lehrte an der Technischen Universität München 30 Jahre lang Gewässerökologie und Naturschutz.

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Platons Staat hat repressive Strukturen

Barbara Schmitz weiß: „In der Philosophie finden sich bei Platon Überlegungen dazu, dass es bestimmte Arten des Lebens gibt, die nicht wert sind, gelebt zu werden.“ Platon entwirft in der „Politeia“ einen Staat, der sich nicht nur durch repressive Strukturen auszeichnet. Im Hinblick auf Menschen mit Behinderung stellt Platon fest: „Wer körperlich nicht wohlgeraten ist, den sollen sie sterben lassen. Wer seelisch missraten und unheilbar ist, den sollen sie sogar töten.“ Hintergrund ist für Platon nicht nur das Ideal von Schönheit und Jugendlichkeit, das das Denken der Antike vielfach prägte. Barbara Schmitz ist habilitierte Philosophin. Sie lehrte und forschte an den Universitäten in Basel, Oxford, Freiburg i. Br., Tromsø und Princeton. Sie lebt als Privatdozentin, Lehrbeauftragte und Gymnasiallehrerin in Basel.

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Hoher Bildungsstand sorgt für moralischen Fortschritt

Bildung ist ein wichtiger Faktor für moralischen Fortschritt. Deutsche mit niedriger Bildung sind eher menschenfeindlich. Sie lehnen beispielsweise Muslime zu 24 Prozent oder Langzeitarbeitslose zu 55 Prozent ab. Bei Deutschen mit einem hohen Bildungsstand liegt dieser Anteil bei 8 und bei 35 Prozent. Philipp Hübl ergänzt: „Auch die Anfälligkeit für populistische Parteien befindet sich bei Deutschen mit niedriger und mittlerer Bildung über dem Durchschnitt, bei Hochgebildeten darunter.“ Der Bildungsstand hängt jedoch nicht unmittelbar von den emotionalen Dispositionen ab. Daher ist es naheliegend, dass man mit der Erziehung ein progressives Emotionsprofil erworben oder als Nebeneffekt emotionale Selbstkontrolle erlernt hat. Noch wahrscheinlicher ist, dass man eingesehen hat, dass Fairness und Mitgefühl vernünftig und allgemein geboten sind, weil man sie auch von anderen für sich selbst erwartet. Philipp Hübl ist Philosoph und Autor des Bestsellers „Folge dem weißen Kaninchen … in die Welt der Philosophie“ (2012).

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Die Smartphones arbeiten im Akkord

Computer-Logik ist ansteckend. Immer mehr Leute tröten ihre Entweder-Oder-Thesen heraus. Kaum versucht man, das Gesagte oder Gepostete zu verstehen, kaum hat sich ein Hauch von Ahnung in einem geformt, wird man auch schon wieder unterbrochen. Rebekka Reinhard erläutert: „Denn die Smartphones arbeiten im Akkord, produzieren Aktion und Reaktion am laufenden Band. Breaking News strukturieren den Alltag, auch wenn Sie nicht am Newsdesk einer Zeitungsredaktion sitzen.“ Schon wieder hat irgendwer irgendwas gesagt! Die Unterbrechung kommt ganz automatisch. Was sagt Markus Söder, was sagen Spiegel Online und Anne Will? Echt oder Fake, war oder falsch? Wer mithalten will, muss denken: hart, schnell und emotional. Für die geduldige, kritische hinterfragende Auseinandersetzung mit Fakten hat man längst eine virtuelle Gedenkstätte eingerichtet. Philosophin Rebekka Reinhard war, bis zur Einstellung der Zeitschrift, stellvertretende Chefredakteurin des Magazins „Hohe Luft“.

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Die Entstehung des Lebens ist immer noch ungeklärt

Die Geschichte des Lebens war keine gleichmäßige Entwicklung. Sondern sie war charakterisiert durch lange Phasen, oft über Hunderte von Millionen Jahren, in denen wenig Neues geschah. Plötzlich entstanden dann durch „Sprünge“ in verhältnismäßig kurzer Zeit vollkommen neue Organisationsformen. Der Evolutionsbiologe Stephen Jay Gould und der Paläontologe Niles Eldredge sprachen angesichts dieser stark schwankenden Geschwindigkeiten auch von einem „punktierten Gleichgewicht“. Fabian Scheidler weiß: „Evolutionäre Sprünge zeichnen sich oft dadurch aus, dass zuvor getrennte Elemente zu neuen integrierten Einheiten verbunden werden, die vollkommen neue Eigenschaften aufweisen.“ Diese neuen Eigenschaften lassen sich nicht aus dem Verhalten der einzelnen Teile ableiten oder auf sie reduzieren. Sie tauchen erst auf der höheren Integrationsebene auf. Der Publizist Fabian Scheidler schreibt seit vielen Jahren über globale Gerechtigkeit.

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Insekten sind systemrelevant für Ökosysteme

In Deutschland ist die Biomasse von Fluginsekten innerhalb von drei Jahrzehnten um bis zu 75 Prozent zurückgegangen. Dirk Steffens und Fritz Habekuss wissen: „In der Folge des Insektenschwunds sterben auch die Vögel, weil viele sich von Insekten ernähren. Beispiel Nordamerika: Dort sind seit 1970 etwa drei Milliarden Vögel verschwunden. Den Verlust von einzelnen Vogel- oder Säugetierarten können Ökosysteme oft einigermaßen ausgleichen, doch Insekten sind systemrelevant.“ Das Problem ist bereits sehr real. In einigen Regionen Chinas müssen Landarbeiter Obstbäume mittlerweile per Hand bestäuben – was aber nicht nur am Insektensterben liegt. In ihrem Buch „Über Leben“ erzählen der Moderator der Dokumentationsreihe „Terra X“ Dirk Steffens und Fritz Habekuss, der als Redakteur bei der „ZEIT“ arbeitet, von der Vielfalt der Natur und der Schönheit der Erde.

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Am Ende des Kampfes gegen das Ressentiment steht die Selbsterweiterung

Cynthia Fleury untersucht in ihrem Buch „Hier liegt Bitterkeit begraben“ das Ressentiment, die Unzufriedenheit und Bitterkeit, die Demokratien zu zerreißen drohen. Die Autorin schreibt: „Man muss das Bittere begraben. Und darauf wächst etwas anderes. Kein Boden ist jemals für immer verflucht: eine bittere Fruchtbarkeit, die das künftige Verständnis begründet.“ Cynthia Fleury ist der Auffassung, dass es in der Fähigkeit, zu ihrem eigenen Ressentiment auf Distanz zu gehen oder nicht, zwischen den Menschen einen radikalen Unterschied gibt. Die Bekämpfung des Ressentiments lehrt die Notwendigkeit der Toleranz gegenüber Ungewissheit und Ungerechtigkeit. Am Ende dieser Auseinandersetzung steht das Prinzip der Selbsterweiterung. Die Philosophin und Psychoanalytikerin Cynthia Fleury ist unter anderem Professorin für Geisteswissenschaften und Gesundheit am Conservatoire National des Arts et Métiers in Paris.

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Das Netzwerkkapital spielt eine große Rolle

Heutzutage spielen die Internationalisierung und Entfaltung der Kompetenzen der Persönlichkeit über standardisierte, nationale Bildungsabschlüsse eine zunehmend wichtige Rolle. Andreas Reckwitz erklärt: „Das ökonomische Kapital von Einkommen und Vermögen will auf volatilen Arbeits-, Immobilien- und Finanzmärkten entwickelt werden. Eine bedeutsame Rolle nimmt die Entwicklung von sozialem Kapital ein.“ Die neue Akademikerklasse zeichnet sich durch eine besonders differenzierte Pflege von Netzwerkkapital aus. Sowohl von solchem, das man beruflich verwerten kann, als auch von solchem, das allgemeine Beratungsfunktion verspricht. Dabei geht es um die Themen Gesundheit, Recht und Bildung. Daneben gibt es ein Netzwerkkapital, das relevant für die Gestaltung der Freizeit ist. Als Beispiele nennt Andreas Reckwitz die Nutzung von Ferienhäusern, internationalen Wohnungstausch oder lokale Kaufempfehlungen. Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder.

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Der „europäische Geist“ erlebte eine Krise

War man um die Mitte des 17. Jahrhunderts durch die zermürbende Erfahrung des Krieges klüger geworden? ES kann jedenfalls kein Zufall sein, dass mehr oder weniger simultan europaweit Tendenzen zu beobachten sind, an allem, was mit überkommenen Machtstrukturen zu tun hat, Kritik zu üben. Jürgen Wertheimer weiß: „Das betrifft Regierungsformen wie Denkstile. England unter der republikanischen Diktatur Oliver Cromwells oder die Revolte der Niederlande gegen die spanische Hegemonie sind nur zwei Beispiele für die beginnende Korrosion traditioneller Herrschaftsgefüge.“ Weit deutlicher jedoch als im Bereich der Politik zeigen sich die Zeichen eines generellen Umbruchs im Bereich der Künste und Wissenschaften. Denn der „europäische Geist“ erlebte in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine massive Krise. Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.

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Nicht alle Leben sind gleich wertvoll

Gewaltlosigkeit ist eine ethische Frage im Kraftfeld der Gewalt. Am besten lässt sich Gewaltlosigkeit vielleicht als Widerstandspraxis beschreiben. Diese ist eben in dem Moment möglich, wenn nicht gar erforderlich, in dem die Ausübung von Gewalt am meisten gerechtfertigt und offensichtlich scheint. Judith Butler stellt fest: „So lässt sich Gewaltlosigkeit als Praxis verstehen, die nicht nur einem gewaltsamen Akt oder Prozess Einhalt gebietet, sondern selbst nachhaltiges – und möglicherweise durchaus aggressiv durchsetztes – Handeln erfordert.“ Judith Butlers Auffassung nach lässt sich also Gewaltlosigkeit nicht einfach als Abwesenheit von Gewalt oder als Enthaltung von Gewalt begreifen. Vielmehr muss man sie als anhaltendes Engagement, ja als Umlenkung von Aggression zum Zweck der Verteidigung der Ideale von Gleichheit und Freiheit verstehen. Judith Butler ist Maxine Elliot Professor für Komparatistik und kritische Theorie an der University of California, Berkeley.

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Paul Kirchhof kennt die Freiheitsrechte

Die Verfassung gewährleistet nicht Freiheit, sondern ein Freiheitsrecht, das definiert, begrenzt, auf die Freiheiten anderer und das Gemeinwohl abgestimmt ist. Paul Kirchhof betont: „Im Mittelpunkt des Rechtsstaates steht die Freiheit.“ Die Menschen wehren sich gegen Sklaverei, gegen willkürliche Verhaftung, gegen Entrechtung und Verachtung bestimmter Gruppe und Einzelpersonen. Im Kern weist das Freiheitsanliegen die Obrigkeit in Distanz und unterbindet deren Willkür durch Recht. Ist dieses Freiheitsziel erreicht, beginnt der Aufbau einer vorbereitenden Freiheitsordnung. Diese verhindert zukünftige Freiheitsverletzungen und fördert den Freiheitsberechtigten in der Freiheitswahrnehmung und der Mitgestaltung des Gemeinwesens. Der Gesetzgeber erlässt ein Bürgerliches Gesetzbuch, gibt damit der Eigentümer- und Berufsfreiheit die Möglichkeit verbindlichen Gestaltens. Dr. jur. Paul Kirchhof ist Seniorprofessor distinctus für Staats- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg.

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Edmund Husserl erschafft die Phänomenologie

Fast unmittelbar nach Immanuel Kant versuchen Philosophen Denken und Wirklichkeit wieder zusammenzubringen. Sei es nun durch eine „Phänomenologie des Geistes“ wie bei Hegel oder durch eine „Philosophie des Willens“ wie bei Arthur Schopenhauer. Ger Groot weiß: „Am Ende dieses Jahrhunderts gibt der Mathematiker und Philosoph Edmund Husserl dem Denken Immanuel Kants eine bedeutende Wendung. Auch Husserl geht davon aus, dass die primäre Gegebenheit unserer Erkenntnis darin besteht, dass uns die Dinge erscheinen.“ Sie sind Phänomene – daher der Name der philosophischen Schule, die er ins Leben ruft: Phänomenologie. Auf Basis dieser Feststellung geht er, ebenso wie Immanuel Kant, auf die Möglichkeitsbedingungen der Phänomene zurück. Ger Groot lehrt Kulturphilosophie und philosophische Anthropologie an der Erasmus-Universität Rotterdam. Außerdem ist er Professor für Philosophie und Literatur an der Radboud Universität Nijmegen.

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Die Kunst schweißt die Menschen zusammen

Kunst schafft Symbole und verwandelt so menschliche Gruppen in Überlebensmaschinen. Sie schweißt die Menschen zusammen. Stefan Klein erklärt: „Kunst wurde demnach umso bedeutender, je mehr Personen zusammenlebten. Zu Schmuckstücken umgewandelte Muscheln etwa können Status und Individualität signalisieren.“ Wenn nämlich Menschen geistig dazu imstande sind, in einem Gegenstand ein Zeichen für etwas ganz anderes zu sehen, hören die bemalten Muscheln auf, nur Kalkschalen von Weichtieren zu sein. Sie sind Zeichen für das Zusammenleben geworden. Solange die Menschen nur sehr wenige waren und kaum Austausch mit anderen pflegten, benötigten sie keine solchen Symbole. Niemand legt im engsten Familienkreis ein Collier an. Stefan Klein zählt zu den erfolgreichsten Wissenschaftsautoren der deutschen Sprache. Er studierte Physik und analytische Philosophie in München, Grenoble und Freiburg.

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Im Spiegel vervielfältigt sich die eigene Gestalt

Das Reich der Bilder, die Sinnenwelt, ist ein an den Rändern einer spezifischen Kraft – des rezeptiven Vermögens – errichtetes Reich. Emanuele Coccia erläutert: „Indem das Medium die materielose Form in sich empfängt, trennt es sie von ihrem gewohnten Substrat und ihrer Natur.“ In den Begriffen der Scholastik ist das Medium der Ort der Abstraktion, also der Abtrennung. Das Sinnliche ist die von ihrer natürlichen Existenz abgetrennte, abstrahierte Form. So existiert das eigene Abbild im Spiegel oder einer Fotografie wie losgelöst von der eigenen Person, in einer anderen Materie, an einem anderen Ort. Die Trennung ist die wesentliche Funktion des Ortes. Einer Form einen Ort zuzuweisen, bedeutet, sie von den anderen zu trennen. Sie von der Kontinuität und der Vermischung mit dem übrigen Körper abzulenken. Emanuele Coccia ist Professor für Philosophiegeschichte an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris.

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Der Hass ist das Gegenteil der Liebe

Band 25 des Philosophicums Lech handelt von einem elementaren Gefühl: dem Hass. Negative Gefühle gibt es viele, aber nur dem Hass kann man scheinbar nichts Positives abgewinnen. Er ist der einzige Affekt, der generell als unzulässig erachtet wird. Konrad Paul Liessmann erklärt: „Es geht nur noch darum, wie wir ihn eindämmen, neutralisieren, entschärfen, zurückdrängen und bekämpfen können.“ Anders als Wut und Zorn ist Hass in hohem Maße auf Verbalisierung und Aktionismus angewiesen. Dem Hass könnte man allenfalls entgehen, wenn man seine moralischen Überzeugungen immer wieder in Frage stellt. Konrad Paul Liessmann betont: „Den Hass zu neutralisieren wird nur gelingen, wenn uns klar wird, wie tief wir in dieses Gefühl gerade dann verstrickt sind, wenn wir uns frei davon wähnen.“

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