Hannah Arendt stellt fest, „dass man der Staatsräson jedes Prinzip und jede Tugend eher opfern“ könne „als gerade Wahrheit und Wahrhaftigkeit“. Das liegt für Peter Trawny auf der Hand: „Indem sich die Politik im Element des Scheins und der Täuschung bewegt, wird die Wahrheit, die Anerkennung bestimmter Tatsachen, immer unverzichtbarer.“ Selbst in demokratischen Systemen etablieren sich Öffentlichkeiten, in denen zwar das Allermeiste sagbar bleibt, doch bestimmte Aussagen gesellschaftliche Konsequenzen nach sich ziehen. Wie in totalitären Systemen scheinen Männer und Frauen bereit zu sein, sich selbst zu canceln, wenn es dem großen Ganzen dient. Die Disziplinierungen in Ost und West sind verschieden, doch beide wirksam. Ausgesprochene Tatsachen sind politisches Dynamit. Peter Trawny gründete 2012 das Matin-Heidegger-Institut an der Bergischen Universität in Wuppertal, dessen Leitung er seitdem innehat.
Die Bedeutsamkeit der Erinnerung ist kaum zu überschätzen
„Tatsachen und Ereignisse, die unweigerlichen Ergebnisse menschlichen Zusammenlebens und -handelns“, seinen nämlich „die eigentliche Beschaffenheit des Politischen“, sagt Hannah Arendt. Wenn es schon fraglich ist, welches Verhältnis die Politik zu diesen Tatsachen und Ereignissen hat, dann ist es vor allem die Aufgabe der Geschichtswissenschaften –, und vielleicht überhaupt der Geschichten, die sich Menschen erzählen – sie zu dokumentieren und so vor dem Vergessen zu schützen.
Die Bedeutsamkeit der Erinnerung an tatsächliche Geschehnisse ist kaum zu überschätzen. Peter Trawny ergänzt: „Bei aller scheinbaren Inaktualität der Vergangenheit – und alle Tatsachen und Ereignisse gehören immer schon zu ihr – ist die eigentliche Gegenwart unübersehbar.“ Dass Menschen Zeugnis ablegen, dient der notwendigen Vergegenwärtigung eines Vergangenen, aus dem Menschen lernen können, wer sie sind oder sein wollen. Vor allem fordert sie den Meinungsstreit heraus und strapaziert ihn. Die Tatsachenwahrheit ist deshalb von Natur politisch, weil sie mit politischen Meinungen kollidieren kann. Diese Kollision ist für das Politische unausweichlich.
Zwischen der Wahrheit und der Politik gibt es eine unüberbrückbare Kluft
Nach Hannah Arendt ist das eigentliche politische Vermögen nicht das Wissen, sondern das Meinen. Peter Trawny stellt fest: „Zwischen der Wahrheit und der Politik gibt es eine unüberbrückbare Kluft, da die Wahrheit keine Möglichkeit zum Streit bietet.“ Eine Regierung, deren Politik sich nach Experten richtet, ist problematisch, da sie letztlich aufhört, ein politisches Organ zu sein. Die Corona-Pandemie hatte so eine entpolitisierende Wirkung. Diskussionen, für die es keine Zeit mehr gab, wurden durch Verordnungen ersetzt.
Das ist es übrigens, was Hannah Arendt in „Vita activa“ etwas grob den „Sieg des Animal laborans“ nennt. Er ist dadurch charakterisiert, dass die Tatsache des Lebens absolut vorherrschend wurde. Für den modernen Menschen sie das Leben der Güter höchstes. Nun übernimmt die Gesellschaft in ihrem Endstadium die politische Sphäre vollkommen. Peter Trawny erläutert: „Der Raum für kollidierende Meinungen ist abgeschafft, Sozialtechniker und Systemtheoretiker planen und steuern das gesellschaftliche Geschehen, in dem der Kampf ums Dasein verfahrenstechnisch normalisiert wird.“ Quelle: „Krise der Wahrheit“ von Peter Trawny
Von Hans Klumbies
