Überall prasseln Reize auf die Menschen ein, auf sie sie reagieren. Reize, die sie zu steuern beginnen. Denn alles Mögliche giert nach Aufmerksamkeit und bekommt sie auch schließlich. Georg Milzner ergänzt: „Nur nicht die, die sie am meisten verdienen. Und am wenigsten oftmals wir selbst.“ Denn als Folge für die gewaltigen Reizmengen, die tagtäglich auf einen Menschen eindringen, verliert er zunehmend das Gefühl für das, was in ihm vorgeht. Und mehr noch. Alle diese Reize führen untereinander ein erbarmungsloses Gefecht. Es geht dabei nicht um ein komplexes Individuum, sondern allein um die Aufmerksamkeit. Um sie ist ein Konkurrenzkampf entbrannt, die in der Menschheitsgeschichte seinesgleichen sucht. Hinter nahezu allem, was heute Aufmerksamkeit zu erlangen heischt, stehen Vorsatz und Planung, Zielsetzung und Kalkül. Georg Milzner ist Diplompsychologe und arbeitet in eigener Praxis als Psychotherapeut.
Der Verlust der Selbstaufmerksamkeit stellt die Identität infrage
Störungen der Aufmerksamkeit sind vielleicht das gravierendste in einer ganzen Reihe zeittypsicher Störungsbilder, die nicht nur Kinder und Jugendliche betreffen, sondern nahezu alle Menschen. Eigentlich sollte es ganz einfach sein. Die Instinkte müssten einen Menschen davor warnen, was ihn gefährdet. Doch ganze Industrien arbeiten daran, diese Schutzmechanismen auszutricksen. Der Verlust der Selbstaufmerksamkeit bedeutet nicht bloß Fahrigkeit. Er ist kein Problem, das sich isoliert betrachten ließe. Vielmehr stellt dieser Verlust die ganze Identität infrage.
Denn die Ausbildung eines reifen Selbst, einer gefestigten Persönlichkeit also, ist zunächst ans Wahrgenommenwerden und dann an Selbstwahrnehmung und Selbstauseinandersetzung geknüpft. George Milzner schreibt: „Die modernen Medien haben etwas Ungeheures vollbracht: Sie haben Millionen Menschen miteinander vernetzt, die sonst ohne jede Kenntnis voneinander geblieben wären.“ Andererseits gilt: Man kann nicht behaupten, dass der Kontakt zwischen den Völkern oder auch nur den Volksgruppen sich hierdurch nennenswert verbessert hätte.
Der Kapitalismus hat zu einer erschreckenden Selbstentfremdung geführt
Was jedoch unzweifelhaft gewachsen ist, ist das Bedürfnis wahrgenommen zu werden. Doch dieses Bedürfnis bleibt oftmals unerfüllt und wird nur in unzureichenden Maß gestillt. Georg Milzner erläutert: „Denn ein Selfie, über Facebook oder Instagram verbreitet, oder tausend What`s-App-Nachrichten stellen unseren „Freunden“ zwar ein Bild von uns vor, führen in der Summe aber eher von uns weg.“ Was entsteht, ist lediglich eine vermehrte, ja übermäßige Hinwendung nach außen, der das Selbstgefühl schleichend verloren geht.
Dem Bedürfnis wahrgenommen zu werden, fehlt in der Regel sein Gegenstück: der Wunsch, auch andere wahrzunehmen. So ist eine frappierende Schere entstanden. Denn einerseits begegnen wir Menschen am anderen Ende der Welt mit einer Leichtigkeit, die faszinierend ist. Andererseits treffen wir aber den einzigen Menschen, der für uns wirklich lebenswichtig ist, immer seltener an: uns selbst. Tatsächlich hat die moderne, schnelllebige, technisierte und an den Erfordernissen des globalen Kapitalismus ausgerichtete Welt eine Selbstentfremdung möglich gemacht, die erschreckt. Quelle: „Wir sind überall, nur nicht bei uns“ von Georg Milzner
Von Hans Klumbies