Der moderne Mensch ist kein besonderer Freund von Ritualen. Konrad Paul Liessmann nennt ein Beispiel: „Jedes Mal zu Weihnachtszeit, wenn die Adventsmärkte aufgebaut, die Geschäfte geschmückt, die Plätze, Fenster und Wohnungen beleuchtet werden, denkt er zum Beispiel kritisch über den Sinn eines geschäftigen, von einem unbeugsamen Willen zum Kitsch gekennzeichneten Treibens nach.“ Der religiöse Hintergrund solch ritueller Feste ist ihm ebenso suspekt wie die Degradierung derselben zu einem globalen Konsumrausch. Auf solch leere Rituale, so seine These, könne man auch verzichten. Menschen, die man mag, kann man immer beschenken, Bücher zu jeder Jahreszeit kaufen und lesen, Notleidende bedürfen immer der Hilfe, und Kerzenlicht macht sich auch bei anderen Gelegenheiten gut. Konrad Paul Liessmann ist Professor emeritus für Philosophie an der Universität Wien, Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist.
Der Ursprung und der Sinn von Ritualen sind verschwunden
Die Nüchternheit des modernen Menschen steht durchaus im Widerspruch zu seiner verborgenen Sehnsucht nach kollektiven rituellen Handlungen. Da er diese seiner eigenen Lebenswelt nicht mehr zugesteht, sucht er sie bei anderen. Konrad Paul Liessmann erklärt: „Er bewundert die religiösen Rituale ihm fremder Kulturen, deren Fastenzeiten, Feste und Speisevorschriften und setzt alles daran, dass diese auch praktiziert werden können.“ Um seine Toleranz und Weltoffenheit zu demonstrieren, schließt er sich manchmal auch kokett diesen Ritualen an, obwohl der deren religiösen Hintergrund noch weniger kennt als den seiner eigenen Tradition.
Die Freude an unverstandenen Ritualen hat gute Gründe. Rituale sind Wiederholungen, deren Ursprung und Sinn verschwunden sind. Sie bleiben Gesten, Handlungen, Accessoires, Äußerlichkeiten, ästhetische Inszenierungen. Konrad Paul Liessmann fügt hinzu: „Das Besondere daran: Rituale ordnen die Zeit und gehorchen in der Regel einem zyklischen Zeitverständnis. Rituale orientieren sich, wie religiös sie auch immer fundiert sein mögen, an Friedrich Nietzsches Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen.“
In der Moderne ist die Wiederkehr des Gleichen verpönt
Genau deshalb können sie auch sinnentleert praktiziert werden – ihre Bedeutung liegt in der reinen Wiederholbarkeit. Konrad Paul Liessmann ergänzt: „Rituale verweisen in die Zukunft, weil sie in der Vergangenheit schon gültig waren, Rituale versprechen den Akteuren, richtig zu handeln, sofern die Präskriptionen des Rituals befolgt werden. Rituale entlasten so den Einzelnen von der Aufgabe, die Sinnhaftigkeit seiner Handlung zu überprüfen.“ Das Festhalten an Ritualen erklärt sich aus dieser Vergewisserung: das Richtige zu tun, indem man sich einfach einer Form fügt.
Die Moderne wäre allerdings gerne ein Kultur ohne Rituale. Sie definiert Zeit als lineare, offene Bewegung, die nur eine Richtung ins Unbekannte kennt, keine Wiederkehr des Gleichen. Konrad Paul Liessmann erläutert: „Die Dynamik dieser Gesellschaftsformation, die Sprengkraft des Kapitalismus, die nach einem Wort von Karl Marx alles Stehende und Ständisches zum Verdampfen bringt, darf die Wiederholung nicht kennen, denn sie glaubt an das Neue, nicht an die Wiederkehr des Alten.“ Quelle: „Lauter Lügen“ von Konrad Paul Liessmann
Von Hans Klumbies