Aristoteles zählt die Dichter zu den besten Lehrern des Volkes

Aristoteles zählt in Übereinstimmung mit der griechischen Tradition die Dichter zu den besten Lehrern des Volkes. Dabei spricht er ihnen laut Otfried Höffe nachdrücklich die Aufgabe zu, starke emotionale Wirkungen hervorzurufen. Aristoteles billigt der Dichtung eine eigene vorrangig nicht intellektuelle, sondern affektive Form von Rationalität zu, was auf ein Plädoyer für ein erhebliches Maß an ästhetischer Autonomie hinausläuft. Der griechische Philosoph befasst sich mit dem Wesen der Dichtung, mit ihren verschiedenen Gattungen und mit ihrer anthropologischen Grundlage. Dabei sieht er das Wesen in jener Mimesis, Nachahmung, die nicht etwa täuschende Echtheit sucht. Vielmehr besagt die Mimesis, dass selbst eine geniale Fiktion an vorgängig existierende Wirklichkeit, insbesondere an die emotionale, soziale und politisch Natur und Kultur des Menschen, zurückgebunden bleibt. Otfried Höffe ist Professor für Philosophie und lehrte in Fribourg, Zürich und Tübingen, wo er die Forschungsstelle Politische Philosophie leitet.

Die griechische Tragödie zählt zur Weltliteratur

Otfried Höffe erläutert: „Platons Prinzip der Wahrheit bleibt Aristoteles durchaus treu, es geschieht jedoch auf eine von Platons Dichtungskritik grundverschiedenen Weise. Erstens gibt es gemäß dem Begriff der Mimesis eine für die Dichtung charakteristische Art von Wahrheit, zu der zweitens die Aufgabe einer inneren Stimmigkeit hinzukommt.“ Noch in einer weiteren Hinsicht geht Aristoteles über Platon hinaus. Er beschränkt sich nicht auf Homer und Hesiod, sondern berücksichtigt den außergewöhnlichen Reichtum der griechischen Dichtung.

Dabei spielt die Tragödie, erneut aus dichtungsinternen Gründen, eine herausragende Rolle. Im Vergleich zum Epos zeichnet sie sich nämlich durch eine größere Eindringlichkeit aus; ferner erreicht sie das Ziel der Nachahmung mit einer geringeren Ausdehnung; nicht zuletzt bildet sie bei ihrer Mimesis ein höheres Maß an Einheit. Wegen der dramatischen Einheiten von Ort und Zeit und der Beschränkung auf wenige Figuren, vor allem aber wegen der Konzentration auf wesentliche Fragen der Menschheit ist die griechische Tragödie bis heute eine der bühnenwirksamsten Gestalten der Weltliteratur.

Die Dichtung ist wertvoller als die Geschichtsschreibung

Aristoteles prägt für die Tragödie den einflussreichen Begriff der tragischen Lust mit dem Doppelgestirn von Mitleid und Furcht und dem Begriff der Katharsis, der Reinigung oder Erleichterung. Die Tragödie setzt die Menschen einer Erziehung der Gefühlswelt aus. Otfried Höffe erläutert: „Ob Theater, Film oder Literatur – in vielen großen Beispielen stelle die Künste exemplarische Lebensmöglichkeiten dar: Sie führen große Leidenschaften vor, zwingen uns mit den Protagonisten mitzufühlen und sich dabei auf einen Prozess der emotionalen bzw. affektiven Kultivierung auszusetzen.“

Laut Aristoteles ist die Dichtung philosophischer und überdies wertvoller als die Geschichtsschreibung. Obwohl die Dichtung den Personen Eigennamen gibt, hat sie nämlich mit dem Allgemeinen zu tun. In einer individuellen dichterischen Gestalt und ihrem Schicksal, beispielsweise im Ödipus der gleichnamigen Tragödie, bringt also die Dichtung im Rahmen ihrer Mimesis exemplarisch Allgemeinmenschliches, beispielsweise eine Höhenflug, auf den der tiefe Fall folgt, zur Darstellung. Quelle: „Kritik der Freiheit“ von Otfried Höffe

Von Hans Klumbies