Aristoteles vertraut der lebensweltlichen Erfahrung

Von manchen Interpreten wir die aristotelische Methode der philosophischen Klärung als „topisch“ bezeichnet. Julian Nida-Rümelin erklärt: „Gemeint ist, dass Aristoteles nicht, wie etwa Platon, unser Alltagswissen durch ein wissenschaftlich-philosophisches Grundlagenwissen ersetzen möchte, sondern vielmehr der lebensweltlichen Erfahrung vertraut.“ Daher beginnt seine Argumentation meist unter Bezugnahme auf das, was die Menschen für richtig halten – die „tópoi“, die Allgemeinplätze, auf die sich alle einigen können. Aber sie bleibt dabei nicht stehen, sondern geht dann über dieses „tópoi“ hinaus, um – möglichst nah an dem, was Menschen gemeinsam für richtig halten – eine tragfähige Theorie zu entwickeln. In einzelnen Fällen führt diese Theorie dann doch sehr weit ab von den üblichen Meinungen. Ein Beispiel ist die Theorie der Lebensformen von Aristoteles. Julian Nida-Rümelin gehört zu den renommiertesten deutschen Philosophen und „public intellectuals“.

Die bessere Lebensform ist die „theoretische“

Aristoteles vertritt in dieser Theorie die These, dass es nur zwei Weisen gibt, ein gelingendes Leben zu führen: die praktische und die theoretische. Julian Nida-Rümelin erläutert: „In der praktischen Lebensweise entfalten sich die menschlichen Fähigkeiten im alltäglichen Handeln, in der Kooperation und im Engagement in der politischen Gemeinschaft, dem damaligen griechischen Stadtstaat.“ Der „polítes“ ist der männliche, freie Bürger einer Stadt, der über sich keine Herrschaft duldet, aber sich mit anderen zusammentut, um die Bedingungen des städtischen Lebens möglichst günstig zu gestalten.

Der „polítes“ ist kein Politiker, sondern ein praktisch Tätiger, der – gegründet auf Lebenserfahrung, nicht primär auf Wissenschaft – dazu beiträgt, dass die Menschen ein gutes Leben realisieren können. Julian Nida-Rümelin blickt zurück: „So weit ist die Theorie, jedenfalls damals unter den Zeitgenossen des Aristoteles, weithin zustimmungsfähig.“ Aber dann führt Aristoteles aus, dass es noch eine zweite, bessere Lebensform gibt, die er als die „theoretische“ bezeichnet.

Aristoteles wollte keine widerstrebenden Meinungen zum Verstummen bringen

Diese besteht im Rückzug aus der Vielgeschäftigkeit des engagierten, zumal politischen Lebens. Für diese Lebensform steht die Betrachtung, das philosophische Urteil im Mittelpunkt. Julian Nida-Rümelin vermutet: „Es ist nicht anzunehmen, dass die harsche Zurückweisung der Lebensform der Vielen und das noch recht exzentrische Lob des Rückzugs auf die bloße Betrachtung sich allgemeiner Zustimmung erfreute.“ Aber es ist damit ein Lied angestimmt, das mit unterschiedlicher Melodie immer wieder über die Jahrhunderte bis heute nachhallt.

Julian Nida-Rümelin stellt fest: „Cicero schwärmt von der idealen menschlichen Lebensform des „otium“, ausgerechnet er, der Anwalt, Rhetor, Politiker und in viele politische Händel Verstrickte – die mittelalterliche „contemplatio“, die den Christenmenschen Gott näher bringen sollte, die zeitgenössischen Akademien der Muße oder die zenbuddhistisch inspirierten Retreats.“ Nichts scheint Aristoteles ferner gelegen zu haben als das Bestreben, widerstrebende Meinungen zum Verstummen zu bringen. Quelle: „Cancel Culture“ von Julian Nida-Rümelin

Von Hans Klumbies