Das Nervensystem ist der Diener des Körpers

Eine gute Schätzung verlegt die Entstehung des Nervensystems ins Präkambrium, eine Periode, die vor 560 bis 600 Millionen Jahren endete. Das Leben und sogar vielzelliges Leben kam etwas drei Milliarden Jahre lang gut ohne das Nervensystem zurecht. Antonio Damasio erläutert: „Aus heutiger Sicht schufen die neu auf der Bildfläche erschienenen Nervensysteme für vielzellige Lebewesen die Möglichkeit, die Homöostase im ganzen Organismus besser zu regulieren. Und das wiederum machte eine Vergrößerung von Körper und Funktionsumfang möglich.“ Die Nervensysteme entwickelten sich als Diener für den übrigen Organismus. Oder genauer gesagt, für den Körper – und nicht andersherum. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass sie bis zu einem gewissen Grad auch heute noch Diener geblieben sind. Antonio Damasio ist Professor für Neurowissenschaften, Neurologie und Psychologie an der University of Southern California. Zudem ist er Direktor des dortigen Brain and Creative Institute.

Die Neuronen definierten das Nervensystem am besten

Das Nervensystem hat einige charakteristische Eigenschaften. Antonio Damasio erklärt: „Die wichtigste betrifft die Zellen, die es am besten definieren: die Neuronen. Sie sind erregbar.“ Mit anderen Worten: Wenn ein Neuron „aktiv“ wird, kann es eine elektrische Entladung erzeugen. Diese wandert vom Zellkörper zum Axon, dem faserförmigen Fortsatz, der vom Zellkörper ausgeht. Und ihrerseits an der Stelle, an der ein Neuron ein anderes oder eine Muskelzelle berührt. Dort wird die Freisetzung von Molekülen eines sogenannten Neurotransmitters in Gang gesetzt.

An der Kontaktstelle, Synapse genannt, aktiviert der Neurotransmitter die nächste Zelle. Bei dieser kann es sich um ein weiteres Neuron oder um eine Muskelzelle handeln. Zu einer vergleichbaren Leistung sind nur wenige andere Zelltypen im Organismus in der Lage. Die Kombination eines elektrischen und eines chemischen Prozesses, die eine andere Zelle zur Aktivität veranlasst, ist das typische Kennzeichen von Neuronen, Muskelzellen und manchen Sinneszellen. In dieser Errungenschaft kann man die prachtvolle Weiterentwicklung der biologisch-elektrischen Signalübertragung sehen. Diese wurden zuerst in sehr bescheidenem Umfang von einzelligen Lebewesen wie den Bakterien bewerkstelligt.

Die Zentrale des Nervensystems ist das Gehirn

Antonio Damasio weiß: „Ein anderes Merkmal, das die Nervensysteme zu etwas Einzigartigem macht, ist die Tatsache, dass die Nervenfasern – die Axone, die vom Zellkörper des Neurons ausgehen – in nahezu allen Ecken und Winkeln des Organismus enden, in einzelnen inneren Organen, Blutgefäßen, Muskeln, der Haut und anderen Bestandteilen.“ Zu diesem Zweck überbrücken die Nervenfasern häufig von dem zentral angeordneten Zellkörper ihrer Elternzelle aus große Entfernungen. Die Übertragung zu weit entfernten Nervenenden wird aber auch angemessen erwidert.

In hoch entwickelten Nervensystemen verlaufen Nervenfasern einer weiteren Kategorie in umgekehrter Richtung von den unzähligen Körperteilen zur „Zentrale“ des Nervensystems, im Falle des Menschen also zum Gehirn. Nervenfasern, die vom Zentralsystem zur Peripherie verlaufen, haben im Wesentlichen die Aufgabe, Tätigkeiten wie die Ausscheidung bestimmter Moleküle oder die Kontraktion eines Muskels in Gang zu setzen. Gleichzeitig vollziehen die Fasern, die in umgekehrter Richtung von Inneren des Organismus zum Gehirn verlaufen, einen als Interozeption bezeichneten Vorgang, der manchmal auch Viszerozeption genannt wird, weil er viel mit den Vorgängen in den Bauchorganen zu tun hat. Quelle: „Im Anfang war das Gefühl“ von Antonio Damasio

Von Hans Klumbies