In Europa wollen sich die Menschen voneinander unterscheiden

Die Entwicklung von Migration und kultureller Verschiedenheit weist laut Andreas Wirsching darauf hin, dass Europa trotz seines langfristigen Trends zum Nationalstaat zugleich auch immer ein transnationaler Raum gewesen ist. Er denkt dabei zum Beispiel an die Vielvölkerreiche  in Ost- und Südosteuropa. Zudem resultierte jede nationale Kultur aus konkreten Mischformen vielfältiger Einflüsse. Aber in dem Maße, indem Europa seit den 1970er Jahren raumzeitlich stärker zusammenwuchs, Grenzen abgebaut, Reisen erleichtert und Kommunikationsmittel immer leistungsstärker wurden, stieg auch das Bedürfnis der Menschen sich zu unterscheiden. Andreas Wirsching schreibt: „Wo sich Europa kulturelle beschleunigte und Lebensstile sich anglichen, wo Mobilität und Migration zur Alltagserfahrung wurden, ging es immer auch darum, sich einen eigenen, unverwechselbaren Platz zu sichern.“ Andreas Wirsching ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.

Die Europäische Union strebte eine transnationale Zivilgesellschaft an

Diese Tendenz betraf sowohl Zuwanderer als auch Einheimische. Nicht umsonst avancierte für Andreas Wirsching schon seit den 1980er Jahren Identität zu einem Schlüsselbegriff in der Soziologie, den Geschichts- und Kulturwissenschaften. Andreas Wirsching erklärt: „Ob es um Individuen oder soziale Gruppen, Städte oder Regionen, Sprachgemeinschaften, ethnische Minderheiten oder Nationen ohne eigenen Staat ging: stets stand die Frage nach der Identität im Mittelpunkt, nach der Fixierung der Grenze zwischen dem Eigenen und dem Anderen oder auch dem Fremden.“

Andreas Wirsching stellt aber auch fest, dass symbolische Grenzen, die Konstruktion kultureller Differenz, aber auch ethnisch und religiös begründete Konflikte im neuen Europa eine zentrale Rolle spielen. Sie gewannen seiner Meinung nach in dem Maße mehr Gewicht, in dem Globalisierung und liberal-egalitäre Demokratie den Kontinent mehr als je zuvor bestimmten. Zwar wurde in Europa eine transnationale Zivilgesellschaft von vielen gewünscht und auch zur Zielperspektive der Europäischen Union erhoben; ihnen wirkten aber laut Andreas Wirsching ganz offenkundig identitätsbezogene, partikulare Kräfte entgegen.

Die regionalen Eigentümlichkeiten und Traditionen gewannen an Bedeutung

Dass dieser Gegensatz eine zunehmend bedeutsame Identität des neuen Europa bildete, ist für Andreas Wirsching unleugbar, und dies betrifft insbesondere Fragen der territorialen Identität. Andreas Wirsching erläutert: „In fast allen Teilen Europas wurden regionale Eigentümlichkeiten und Traditionen während der 1980er und 1990er Jahre fortgeschrieben, wiederentdeckt und neu belebt. Viele europäische Staaten föderalisierten sich, während sich zugleich die Europäische Union um die territoriale Kohäsion der Gemeinschaft sorgte.“

Denn trotz aller vereinheitlichenden Tendenzen bewirkten gemäß Andreas Wirsching ungleiche ökonomische Entwicklungen erhebliche Unterschiede in den materiellen Lebensumständen der Europäer. Andreas Wirsching schreibt: „Die Ausdrucksformen territorial-regionaler Identitäten variieren. Häufig dominierte ein folkloristischer Zug, der sich in spezifisch regionalen Konsum- und Unterhaltungsangeboten äußerte. In anderen Regionen hingegen transformierte sich das regional-territorial verwurzelte Eigenbewusstsein in eine politische Bewegung.“

Von Hans Klumbies