Die Idee der großen Koalition lähmte die Weimarer Republik

Die Deutschen, so ein weit verbreitetes Urteil, mögen keine politischen Konflikte. Und geradezu allergisch reagieren sie laut Andrea Wirsching, wenn sich der Streit als „Parteiengezänk“ darstellt. Der sozialdemokratische Staatsrechtler Gustav Radbruch hat dieses Phänomen schon in der Weimarer Republik aufgespürt und als „Parteienprüderie“ bezeichnet. Er beschreibt mit diesem Begriff den Unwillen, Parteien als legitime Organe politischer Willensbildung zu akzeptieren. In der Weimarer Zeit suchte deshalb die parlamentarische Elite gegen diesen Unwillen ein Patentrezept und erfand die große Koalition. Viele Politiker der damaligen Zeit erhoben die Idee der großen Koalition zum Maß aller Dinge, wenn es um die Existenzbedrohung des stets prekären Weimarer Parlamentarismus ging. Andreas Wirsching ist Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München/Berlin und Inhaber des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Konrad Adenauer schmiedete 1949 eine christlich-liberale Koalition 

Eine große Koalition, die alle bedeutenden republikanischen Parteien einschloss, war damals auch der Wunsch, den Widrigkeiten des Parteiensystems zu entgehen. Andreas Wirsching erklärt: „Tatsächlich geriet die Idee der großen Koalition zur parlamentarischen Ersatzkonstruktion für die vertraute Fiktion einer obrigkeitsstaatlichen Regierung „über die Parteien“. Die Idee der großen Koalition war im Grund systemwidrig und trug dazu bei, den Weimarer Parlamentarismus zu lähmen.“

Einen Bruch mit dieser ebenso mächtigen wie problematischen parlamentarischen Tradition vollzog Konrad Adenauer im Jahr 1949. Damals verwarf er die allgemein favorisierte große Koalition mit der SPD und schmiedete stattdessen eine kleine Koalition mit einer Minimehrheit aus CDU/CSU, FDP und Deutscher Partei. Konrad Adenauer hatte damit sein Erfolgsrezept gefunden. Als dann im Jahr 1966 die christlich-liberale Koalition auseinanderbrach und eine große Koalition die Regierungsverantwortung übernahm, war dies ein tiefer Einschnitt in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.

Auch heute drohen dem Parlamentarismus durch die große Koalition Gefahren

Bei den Wähler erfreute sich die große Koalition großer Beliebtheit. Doch das machtvolle Auftreten der APO, der „Außerparlamentarischen Opposition“ und die Auseinandersetzung um die Notstandsgesetze hüllten die große Koalition in ein Zwielicht. Dennoch hat sich die erste große Koalition der Nachkriegszeit als Erfolg in die Geschichtsbücher der Bundesrepublik eingetragen. Das mag laut Andreas Wirsching auch an ihrer relativ kurzen Regierungszeit liegen. Nach knapp drei Jahren ging man für mehr als dreißig Jahre wieder zur Praxis der kleinen Bündnisse über.

Auch heute trägt das Wohlfühlmodell der großen Koalition in Berlin bedenkliche Züge. Die Opposition hat so wenige Sitze, dass sie nicht einmal in der Lage ist, parlamentarische Untersuchungsausschüsse einzuberufen, sondern dafür eines besonderen Minderheitenschutzes durch das Bundestagspräsidium und den Ältestenrat bedarf. Der demokratischen Gesellschaft drohen dadurch nicht zu unterschätzende Gefahren. Andreas Wirsching fasst diese zusammen: „Die große Koalition könnte demokratische Konflikte stilllegen, den Parlamentarismus zugunsten großer Koalitionsrunden und anderer informeller Gremien lähmen – und schließlich außerparlamentarisch-populistische Protestbewegungen bestärken.“ Quelle: Süddeutsche Zeitung

Von Hans Klumbies