Die Geschichte der Philosophie bewegt sich zwischen Extremen

Die Geschichte der Philosophie bewegt sich zwischen Extremen: Am einen Ende der Skala gibt es Meister der Festlegung, die immerzu ihren einen und einzigen Gedanken denken, ihn bestenfalls noch variieren. Andreas Urs Sommer kennt einige von ihnen: „Zu den Meistern der Festlegung gehört Arthur Schopenhauer, auch Baruch de Spinoza.“ Am anderen Ende gibt es die Meister der Verflüssigung, die stets wieder Neues, Ungedachtes aushecken und dem vermutlich fest Gegründeten den Boden entziehen. Zu diesen Meistern der Verflüssigung zählt Andreas Urs Sommer nicht nur Skeptiker wie Sextus Empiricus, Michel de Montaigne oder David Hume, sondern auch den deutschen Philosophen Wilhelm Joseph Schelling. Andreas Urs Sommer lehrt Philosophie an der Universität Freiburg i. B. und leitet die Forschungsstelle Nietzsche-Kommentar der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.

Friedrich Nietzsche stellt sich Philosophen als „Gesetzgeber“ vor

Und dann gibt es noch jene Philosophen, die zwischen den Extremen der Festlegung und Verflüssigung eine Mitte halten, ihr Gedankengebäude mit immer neuen Anbauten und Ablegern gemächlich errichten, ohne Scheu, auch einmal die Fassade oder das Fundament einer Grundsanierung zu unterziehen, wenn neue Erfahrungen das gebieten. Aristoteles etwa zählt zu diesen Meistern der Mitte. Eigentlich scheint auch Friedrich Nietzsche zu den Meistern der Festlegung gehören zu wollen.

Friedrich Nietzsche stellt sich Philosophen als „Gesetzgeber“ vor: „Die eigentlichen Philosophen aber sind Befehlende und Gesetzgeber“, proklamiert Abschnitt 211 des auf „Also sprach Zarathustra“ folgenden Werkes „Jenseits von Gut und Böse“. Nicht nur ihresgleichen sollen sie Gesetze geben, nämlich Denkstile und Denkwege, an denen sich Philosophen künftig abzuarbeiten haben. Die Vision von den Philosophen als Gesetzgeber schließt auch ein, dass ihre Festlegungen – „Umwertung aller Werte“ in der politischen, in der sozialen Welt Wirklichkeit werden sollen.

Friedrich Nietzsches intellektuelles Profil zeichnet Beweglichkeit aus

Andreas Urs Sommer erläutert: „So sehr Friedrich Nietzsche nun selbst ein philosophischer Festleger sein möchte, so wenig entspricht dieses Trachten doch offensichtlich seinem intellektuellen Profil, das nicht Starrheit, sondern Beweglichkeit auszeichnet.“ Jeden Tag entdeckt er etwas Neues, was sich mit seinen bisherigen philosophischen Mitteln nicht auf den Begriff bringen lässt. So verfällt er auf die paradoxe Idee, sich auf das Werden, die stete Veränderung festlegen zu wollen, das zu seinem unsystematischen „Systemgedanken“ zu machen – das ist „historisches Philosophieren“.

Ein kontinuierliches Bauen in der Mitte ist Friedrich Nietzsche fremd. Seine Bauten stehen am Abgrund, oftmals sind es nur Hütten, Höhlen, wie Zarathustra sie bewohnt, schließlich Lagerstätten ohne Obdach, unter freiem Himmel. Nach „Zarathustra“, der Friedrich Nietzsche wie der Gipfel des philosophisch-literarisch Ausdrückbaren anmutete, stellte sich ihm die Frage, welche Art von Büchern er künftig noch werde schreiben können. Auch aus Verlegenheit, auf diese Frage eine prompte Antwort zu finden, machte er sich an die Durchsicht früherer Werke, um sie einer Neuauflage zuzuführen. Quelle: „Nietzsche und die Folgen“ von Andreas Urs Sommer

Von Hans Klumbies