Friedrich Nietzsche entwickelt eine Philosophie des Fragens

Schaut man genauer hin, verbergen sich schon in Friedrich Nietzsches Werk „Menschliches, Allzumenschliches“ Aphorismen, seine Kurz- und Kürzesttexte. Sie nehmen hier in ihrer Gestalt die verschiedensten Formen an. Andreas Urs Sommer kennt sie: „Selbstgespräche gibt es ebenso wie kurze Dialoge. Sprichwörtlich pointierte Epigramme ebenso wie Experimentanleitungen. Merksätze ebenso wie Miniaturerzählungen, Prosagedichte ebenso wie Parabeln.“ Vielen dieser Texte gemeinsam ist, wenigstens dem Anspruch nach, ihr „dickes Ende“: Das in ihnen nämlich sehr viel mehr steckt, als der knappe Raum, den sie einnehmen, eigentlich zu fassen erlaubt. In seinem Nachlass schrieb Friedrich Nietzsche 1885: „In Aphorismen-Büchern gleich den meinigen stehen zwischen und hinter kurzen Aphorismen lauter verbotene lange Dinge und Gedanken-Ketten.“ Andreas Urs Sommer lehrt Philosophie an der Universität Freiburg i. B. und leitet die Forschungsstelle Nietzsche-Kommentar der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.

Aphorismen verzichten auf letzte Festlegungen

Friedrich Nietzsche fährt fort: „Und manches darunter, das für Ödipus und seine Sphinx fragwürdig genug sein mag. Abhandlungen schreibe ich nicht. Die sind für Esel und Zeitschriften-Leser.“ Das, was Friedrich Nietzsche „seine Aphorismen“ nennt, zeichnet aus, auf letzte Festlegungen zu verzichten. Anstelle einer Philosophie der Antworten, wie sie Friedrich Nietzsche bis dahin mit Arthur Schopenhauers und Richard Wagners Schützenhilfe zu praktizieren versucht hatte, trat jetzt ein Philosophieren in Fragen.

Der scharfe Bruch in Friedrich Nietzsches Denkbewegung lässt ab „Menschliches, Allzumenschliches“ eine kategorische Trennung von Formalem und Inhaltlichem nicht mehr zu. Andreas Urs Sommer erklärt: „Bei der Rekonstruktion dieses Bruchs fällt besonders auf, wie entschieden sich „Menschliches, Allzumenschliches“ gegen die einst von Friedrich Nietzsche selbst betriebene Kunstvergötzung wendet und stattdessen für die Wissenschaften eintritt.“ Der Befund ist erstaunlich: In dem Augenblick, in dem Friedrich Nietzsche die Kunst als letzten Bezugsrahmen verabschiedet, fängt er an, selbst Künstler zu werden.

Friedrich Nietzsche bleibt im Dissens mit der Welt

Denn mit dem aphoristischen Schreiben gewinnt Friedrich Nietzsches Philosophieren eine große literarische Form. Im gedankenlosen Reden über Friedrich Nietzsches Gedanken hat man sich angewöhnt, von Friedrich Nietzsches „positivistischer Phase“ zu sprechen. Und ihm damit eine neue, rein naturwissenschaftliche Orientierung zu unterstellen. Andreas Urs Sommer ist da anderer Meinung: „Was den angeblichen Positivismus anlangt, so gibt es Spuren davon in der unbestreitbaren Tatsache, dass in „Menschliches, Allzumenschliches“ die empirischen Wissenschaften in neuer Weise gewürdigt werden.“

Andreas Urs Sommer fährt fort: „Jedoch fehlt eine zentrale Zutat. Nämlich der positivistische Optimismus, der Glaube an die Zwangsläufigkeit eines Fortschritts der Menschheit sowie der Glaube ans Positive. Mag das Vertrauen in das Allversöhnungsvermögen der Kunst auch verflogen sein. So bleibt doch auch in der neuen Konfiguration von Friedrich Nietzsches Denken ein tragischer Bodensatz. Das heißt eine Weigerung, die Welt in ihrer gegenwärtigen Beschaffenheit gutzuheißen. Der kritische und aufklärerische Friedrich Nietzsche bleibt im Dissens mit der Wirklichkeit. Diese will er allerdings gleichwohl schonungslos erkennen. Quelle: „Nietzsche und die Folgen“ von Andreas Urs Sommer

Von Hans Klumbies