Andreas Urs Sommer stellt fest: „Wir sind zu divers geworden. Jedenfalls für die traditionelle repräsentative Demokratie. Unsere Diversität ist zu groß, als dass wir noch repräsentiert werden könnten.“ Und überdies sind die Bürger durchaus entscheidungsmächtig und entscheidungsfähig. Sie alle. Also sollte laut Andreas Urs Sommer die Demokratie direkt-partizipatorisch sein. Aber wie soll eine solche Demokratie funktionieren? Dank gemeinsamer Werte, sagen womöglich viele Menschen. Geteilte Werte kann man allerdings in einer direkt-partizipatorischen Demokratie nicht voraussetzen. Oder doch nur den Wert, andere Werte anderer Menschen gelten zu lassen. Hans Kelsen, einer der bedeutendsten Rechtswissenschaftler des 20. Jahrhunderts, hat seine „relativistische Wertelehre“ auf „das Prinzip der Toleranz“ gründen wollen. Univ.-Prof. Dr. Andreas Urs Sommer ist unter anderem Professor für Philosophie mit Schwerpunkt Kulturphilosophie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.
Es gibt kein Recht auf absolute Toleranz
Hans Kelsen schreibt: „Es versteht sich von selbst, dass sich aus einer relativistischen Weltanschauung kein Recht auf absolute Toleranz ergibt.“ Dabei handelt es sich um eine Toleranz, die nur im Rahmen einer positiven Rechtsordnung, die den Frieden unter den Rechtsunterworfenen garantiert. Sie verbietet ihnen jede Gewaltanwendung, schränkt aber nicht die friedliche Äußerung ihrer Meinungen ein. In einer direkt-partizipatorischen Demokratie stehen weniger geteilte Werte als vielmehr geteilte Herausforderungen im Zentrum.
Diese Art der Demokratie bildet Gemeinschaft nicht durch Werte, sondern durch die gemeinsame Bewältigung von Aufgaben. Andreas Urs Sommer erläutert: „Diese Aufgaben müssen keineswegs globaler Natur sein. Oft sind sie vielmehr partikular.“ Geteilte Herausforderungen führen keineswegs dazu, dass am Ende alle von derselben Antwort auf diese Herausforderungen überzeugt sind. Vielmehr werden die Antworten auf die Herausforderungen unaufhebbar plural bleiben. Und viele sind möglicherweise der Auffassung, das, was sie als die eigentliche Herausforderung zu erkennen wähnen, werde politisch nicht oder nicht genügend zur Geltung gebracht.
Die direkt-partizipatorische Demokratie ist radikal antiidentitär
Kennzeichen einer direkt-partizipatorischen Demokratie ist es, dass jeder artikulieren und auf die politische Bühne bringen kann, was er für die Herausforderung hält. Andreas Urs Sommer betont: „Eine direkt-partizipatorische Demokratie ist keine Werte- und keine Antwortgemeinschaft. Sie ist vielmehr eine Problemgemeinschaft, eine Herausforderungsgemeinschaft.“ Aber gerade dieser Umstand, vielleicht wider Willen, zwingt all die Differenten und Divergenten zusammen, bricht die Identitätsmilieus und die Schutzräume der Empfindlichkeiten.
Direkt-partizipatorische Demokratie zwingt dazu, sich mit dem auseinanderzusetzen, was andere umtreibt, mit denen man sich nicht in der Wohlfühlgruppe tummelt. Direkt-partizipatorische Demokratie ist radikal antiidentitär und stellt die Gruppenansprüche permanent in Frage. Sie lässt aber zugleich die fortwährende Formulierung von Gruppenansprüchen zu. Andreas Urs Sommer erklärt: „Ich kann beispielsweise den Schutz von Minderheiten oder die Emanzipation der Frauen als eine Herausforderung geltend machen, die alle angeht.“ Quelle: „Politischer Funktionalismus. Zur direkten Zukunft der Demokratie“ von Andreas Urs Sommer in „Als ob!“ von Konrad Paul Liessmann (Hg.)
Von Hans Klumbies