Nach der Gründung des Deutschen Reiches im Jahr 1871 wurde Otto von Bismarck vom Zerstörer zum Bewahrer der Ordnung. Andreas Rödder erläutert: „Nach innen bekämpfte er die katholische Kirche und die Sozialisten als vermeintliche „Reichsfeinde“, und nach außen suchte er das Gleichgewicht der Mächte in der Form von 1871 zu erhalten.“ Otto von Bismarck lernte die Lektion der Krieg-in-Sicht-Krise. Er verkündete, um die „halbhegemoniale Stellung“ Deutschlands einzuhegen, das Deutsche Reich sei zufrieden mit dem Status quo – entgegen allen expansiven Ambitionen nationaler oder machtpolitischer Art. In gewisser Weise ähnelte diese Politik der Machtsicherung durch Machtverzicht der bundesdeutschen Politik des Souveränitätsgewinns durch Souveränitätsverzicht. Dies geschah allerdings nicht wie nach 1949 durch supranationale Selbsteinbindung, sondern mit dem Anspruch, die Fäden selbst in der Hand zu halten. Seit 2005 ist Andreas Rödder Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
Russland fügt dem Osmanischen Reich eine schwere Niederlage zu
In seinem berühmten Kissinger Diktat vom 15. Juni 1877 hielt Otto von Bismarck seine Leitlinien fest: „Koalitionen gegen uns können auf westmächtlicher Basis mit Zutritt Österreichs sich bilden, gefährlicher vielleicht noch auf russisch-österreichisch-französischer; eine große Intimität zwischen zweien der drei letztgenannten Mächte würde der dritten unter ihnen jederzeit das Mittel zu einem sehr empfindlichen Drucke auf uns bieten.“ Es ging Otto von Bismarck darum, auf jeden Fall eine deutsche Isolation zu vermeiden.
Im Jahr des Kissinger Diktats hatten Aufstände gegen die osmanische Herrschaft auf dem Balkan zu einem militärischen Eingreifen Russlands geführt. Das Zarenreich brachte dem Osmanischen Reich eine schwere Niederlage bei und rief durch harte Friedensbedingungen die anderen europäischen Mächte auf den Plan, die eine russische Hegemonie in Südosteuropa fürchteten. Als ein Krieg der Großmächte bevorzustehen schien, lud die deutsche Regierung zu einem Kongress, der vom 13. Juni bis zum 13. Juli 1878 in Berlin tagte.
Deutschland verfolgte keine eigenen territorial-expansiven Interessen
Andreas Rödder weiß: „Bismarck schrieb sich die Rolle des „ehrlichen Maklers“ zu, der in Wahrheit ein ziemlich perfides Kompensationsgeschäft auf Kosten Dritter vermittelte, um die anderen Großmächte in eine spannungsvolle Balance zu bringen und sie dadurch „von Koalitionen gegen uns“ abzuhalten.“ So wurde Österreich-Ungarn zum Beispiel das Recht zur Besetzung Bosniens und der Herzegowina zugesprochen, was die russische Regierung argwöhnisch machte, oder Zypern vom Osmanischen Reich an Großbritannien überlassen.
Zugleich hatte Otto von Bismarck dem Deutschen Reich als Hüter des europäischen Gleichgewichts auf dem internationalen Parkett Respekt verschafft. Grundlage dieser Vermittlungspolitik war, dass Deutschland keine eigenen territorial-expansiven Interessen verfolgte. Das galt auf dem Balkan, und das galt grundsätzlich auch in der Kolonialpolitik, als in den 1880er Jahren das große Rennen der europäischen Mächte um koloniale Macht und imperiale Expansion begann. Quelle: „Wer hat Angst vor Deutschland?“ von Andreas Rödder
Von Hans Klumbies