Was die Deutschen die „deutsche Frage“ nennen, heißt in anderen Ländern das „deutsche Problem“. Andreas Rödder erläutert: „Und was dies bedeutete, wandelte sich im Laufe der Zeit mehrfach.“ Im 19. Jahrhundert ging es zunächst darum, welches Territorium ein zu schaffender deutscher Nationalstaat umfassen und welche Staatsform und Verfassung er haben würde. Nach der Gründung des deutschen Kaiserreichs 1871 stellte sich die Frage, ob der neue, starke Staat in der Mitte des Kontinents mit der europäischen Staatenordnung vereinbar sei. Nach dem Ersten Weltkrieg richtete sich die deutsche Frage dann auf die Möglichkeit eines deutschen Wiederaufstiegs innerhalb der Pariser Friedensordnung, bevor das nationalsozialistische Deutschland diese zertrümmerte. Andreas Rödder zählt zu den profiliertesten deutschen Historikern und Intellektuellen. Seit 2005 ist er Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
In der Mitte Europas kam es immer wieder zu Kriegen
Nach 1949 drehte sich die deutsche Frage wieder um die territoriale Einheit des geteilten und um die verfassungsmäßige Ordnung eines vereinten Deutschlands. Beide Fragen waren mit der Wiedervereinigung von 1990 beantwortet. Nun stellte sich, wie nach 1871, die Frage der europäischen Verträglichkeit der vereinten Staaten in der Mitte des Kontinents. Wenn dabei von der deutschen „Mittellage“ die Rede ist, dann bedeutet dies zunächst, dass Deutschland so viele Nachbarländer hat – heute sind es neun – wie kein anderes Land in Europa.
Im Zusammenhang mit dem Raum in der Mitte Europas, der heute Deutschland heißt, entluden sich immer wieder militärische Konflikte: die Varusschlacht der Germanen gegen das römische Imperium, die Kriege Karls des Großen und Friedrich Barbarossas oder die Schlacht zwischen dem Heer des Deutschen Ordens und Polen-Litauen 1410. Im 17. Jahrhundert eskalierte der Dreißigjährige Krieg unter Beteiligung von Dänemark, Schweden, Spanien und Frankreich.
Deutschland und Frankreich waren einst Erzfeinde
Andreas Rödder ergänzt: „Mit Frankreich wurden in den folgenden Jahrhunderten der Pfälzische Erbfolgekrieg, der Siebenjährige Krieg, die Koalitionskriege zwischen 1792 und 1815 sowie der Krieg von 1870/71 ausgefochten. Dieser beendete die Serie der sogenannten Einigungskriege, die Bismarcks Preußen 1864 gegen Dänemark und 1866 gegen Österreich geführt hatte.“ Preußen und Österreich wiederum hatten im Bunde mit Russland zwischen 1772 und 1795 Polen unter sich aufgeteilt, das erst nach dem Ersten Weltkrieg wieder als eigenständiger Staat entstand.
Zwanzig Jahre später wurde Polen durch den Hitler-Stalin-Pakt abermals geteilt und zum Schauplatz eines Vernichtungskrieges, den Deutschland auch gegen die Sowjetunion führte. Als der Zweite Weltkrieg schließlich durch Bomben und Armeen der Alliierten auf deutsches Territorium zurückschlug, wurde Deutschland erneut zu jenem zentralen europäischen Kriegsschauplatz, der es bis 1813 immer wieder gewesen war. All dies hatte auch daran gelegen, dass die deutschen Lande nicht wie andere Länder eine zentralstaatliche, sondern eine partikulare Entwicklung genommen hatten. Quelle: „Wer hat Angst vor Deutschland“ von Andreas Rödder
Von Hans Klumbies