Bismarck verzichtete auf deutsche Machtzuwächse

Will man es nicht bei einem allzu allgemeinen, ja gefühlten Begriff von „Hegemonie“ belassen, so bietet sich das Konzept des kanadischen Politikwissenschaftlers Robert W. Cox an. Dieser versteht Hegemonie als das Zusammenwirken dreier Faktoren: von materiellen Ressourcen, von geteilten Ideen sowie von Institutionen. Andreas Rödder stellt in Bezug auf das Deutsche Reich fest: „Das Deutsche Reich unter Bismarck verfügte über militärische und in zunehmenden Maße auch über die ökonomischen Ressourcen von „hard power“. Hinsichtlich der Ideen und Normen orientierte sich Bismarck ab 1875 an Status quo und Gleichgewicht.“ Dies stimmte mit den Erwartungen der meisten anderen Teilnehmer des internationalen Systems an Deutschland überein. Bismarck zahlte jedoch den Preis, in einem zunehmend dynamischen Machtgefüge auf signifikante deutsche Machtzuwächse zu verzichten. Seit 2005 ist Andreas Rödder Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Bismarck strebt eine Balance der Großmächte an

Was schließlich die Institutionen betraf, so versuchte Bismarck, ein System von Großmächten ohne multilaterale Organisationen durch immer neu austarierte Bündnisse und Verträge in der Balance zu halten, die allerdings immer komplizierter und instabiler wurden. Alles in allem verhielt sich Deutschland, was seine Machtansprüche anbelangt, unter Bismarck ziemlich defensiv. Dies gilt zumal angesichts einer politischen und ökonomischen Dynamik, in der eine neue Medienöffentlichkeit seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ähnlich unberechenbare Einflüsse ausübte, wie es im frühen 21. Jahrhundert die sozialen Medien tun.

Verglichen mit der Zeit von Bismarck war die Ausgangslage für das wilhelminische Deutschland, das mit seiner boomenden Industrie und seiner technologischen Dynamik weitere hegemoniale Ressourcen gewann, deutlich komplexer. Die Regierungen nach Bismarck ersetzten sein Bündnissystem durch eine Politik der „freien Hand“. In der Folge näherten sich das Vereinigte Königreich, Frankreich und Russland einander an und standen Deutschland, der Habsburgermonarchie und sehr eingeschränkt Italien gegenüber.

Die Deutschen fühlten sich vonseiten der anderen Mächte benachteiligt

Andreas Rödder stellt fest: „Diese Konstellation verfestigte sich im Jahrzehnt vor 1914 mit der zunehmenden Häufung internationaler Krisen.“ Die Diplomatie der Großmächte vermochte sie zwar zunächst immer wieder zu entschärfen. Im entscheidenden Moment des Juli 2014 fehlte es ihr aber an verlässlichen Mechanismen, ein gemeinsames Set an Ideen und Normen. Stattdessen ist ein Auseinanderstreben der Wahrnehmungen auf allen Seiten zu beobachten.

Die deutschen Selbstbilder und die Außenwahrnehmungen von Deutschland bewegten sich vor 1914 in Form negativer Spiralen. Auf deutscher Seite herrschte die Selbstwahrnehmung, friedlich zu sein und nach Gleichberechtigung zu streben. Zugleich fühlten sich die Deutschen vonseiten der anderen Mächte benachteiligt. Was die Deutschen als Wunsch nach Gleichberechtigung ansahen und als Defensive empfanden, erschien von außen hingegen als deutsches Vormachtstreben. Für die Außenwahrnehmungen Deutschlands stellte bereits die Reichsgründung eine Zäsur dar. Quelle: „Wer hat Angst vor Deutschland?“ von Andreas Rödder

Von Hans Klumbies