In seinem neuen Buch „Verlust“ beschreibt der Soziologe Andreas Reckwitz ein Grundproblem der Moderne. Etwa Vierfünftel der Deutschen blicken pessimistisch in die Zukunft. Auch ist der Anteil derjenigen, die erwarten, dass es künftigen Generationen schlechter gehen wird, in den letzten Jahren beständig gewachsen. Für Andreas Reckwitz ist es bemerkenswert, wie stark sich negative gesellschaftliche Zukunftserwartungen seit den 2010er Jahren in vielen westlichen Ländern verfestigt haben. Auch bezogen auf die Kompetenz der Problemlösung liberaler Demokratien haben sich die Erwartungen flächendeckend eingetrübt. Dadurch ist in den westlichen Gesellschaften ein politischer Vertrauensverlust zu verzeichnen. In den Buchhandlungen und auf dem Markt der Sachbücher der Gegenwart stechen der Umfang und die Relevanz psychischer Ratgeber ins Auge. Auf besonderes Interesse stoßen dabei jene Bücher, die den Umgang mit der Trauer zum Thema haben und die sich mit Trennungen, Verletzlichkeit und Verlustschmerz befassen. Andreas Reckwitz ist Professor für Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Verluste sind nicht selten mit Scham verbunden oder mit einem Tabu belegt
Warum erlangen heute so verschiedenartige Verluste Relevanz? Das ist die Frage, von der dieses Buch seinen Ausgang nimmt. Erst wenn man verstanden hat, auf welche besondere Weise die moderne Gesellschaft generell mit Verlusterfahrungen umgeht, kann man einschätzen, was sich in der spätmodernen Gegenwart ändert. Das Buch „Verlust“ will eine nüchterne Analyse der modernen Gesellschaft unter dem Aspekt vornehmen, in welcher Relation sie sich zu Verlusterfahrungen befindet.
Verluste sind ein unangenehmes Thema, nicht selten mit Scham verbunden oder mit einem Tabu belegt, über das man lieber den Mantel des Schweigens breitet. Das Buch „Verlust“ behandelt nacheinander drei Fragen. Erstens: Was sind Verluste und wie lassen sie sich als soziales Phänomen begreifen? Zweitens: In welchem Verhältnis steht die moderne Gesellschaft zu Verlusten? Drittens: Was ändert sich mit den Verlusten in der spätmodernen Gegenwart?
Die Moderne muss klug mit ihren Verlusten umgehen
Vorab lässt sich ganz allgemein feststellen: Verluste sind immer Verlusterfahrungen – von einzelnen Subjekten oder sozialen Gruppen. In der Erfahrung eines Verlustes wird die Tatsache, dass etwas verschwindet, negativ bewertet. Zum Gegenstand des Verlustes werden kann vielerlei. Andreas Reckwitz nennt Beispiele: „Das Leben eines Menschen oder ein zerstörtes Objekt, ein sozialer Status oder die Heimat, die Kontrolle über das eigene Leben oder eine positive Erwartung hinsichtlich der Zukunft.“
Sigmund Freud stellt fest, dass das Individuum im Kern eine Verlustgeschichte ist, dass diese ihm seinen Charakter verleiht. Das Individuum und seine Psyche wird also entscheidend durch seine Verlusterfahrungen geprägt, und man kann diese Einsicht in mancher Hinsicht auf soziale Gruppen und ganze Gesellschaften übertragen. Andreas Reckwitz zieht folgendes Fazit: „Die Moderne war von Anfang an von einem mitreißenden Ideal der Jugendlichkeit geprägt, dass sich aus ihrer Orientierung am Neubeginn und an der Zukunft speiste. Nach 250 Jahren wird es Zeit, dass sie erwachsen wird und lernt, klug mit den Verlusten umzugehen.“
Verlust
Ein Grundproblem der Moderne
Andreas Reckwitz
Verlag: Suhrkamp
Gebundene Ausgabe: 464 Seiten, Auflage 2: 2024
ISBN: 978-3-518-58822-2, 32,00 Euro
Von Hans Klumbies
