In einer Hyperkultur kann alles Kultur sein

Der singularistische Lebensstil der neuen Mittelklasse hat die gesamte Weltkultur für die eigenen Wünsche der Selbstverwirklichung hinzugezogen. Kultur produziert man aus dieser Perspektive nicht innerhalb der eigenen sozialen Gruppe. Sondern sie hat sich in eine Ressource in Gestalt eines heterogenen Feldes von Möglichkeiten der Aneignung verwandelt. Andreas Reckwitz erläutert: „In dieser Hyperkultur kann potenziell alles zur Kultur werden. Das heißt zu einem Objekt oder einer Praxis, das oder die einer ästhetischen, ethischen narrativ-semiotischen, ludischen oder kreativ-gestaltenden Aneignung zugänglich ist.“ Die Elemente dieser Hyperkultur zirkulieren global und transhistorisch, daher kennt sie praktisch keine Grenzen. Die in ihr zirkulierenden Objekte und Praktiken sind einerseits unterschiedlich und singulär. Andererseits befinden sie sich gerade in ihrer anerkannten Differenz im Prinzip alle auf derselben Ebene. Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt / Oder.

Die Hyperkultur macht Offerten

Anders gesagt: Die Hyperkultur hat keine vorgefertigten Präferenzen, sondern macht Offerten. Diese De-jure-Gleichberechtigung kultureller Elemente bedeutet, dass sich klassische Grenzen des kulturell Wertvollen auflösen. Insbesondere zwischen dem Gegenwärtigen und dem Historischen, zwischen Hochkultur und Populärkultur sowie zwischen der eigenen Kultur und der fremden. Im Kultur-als-Ressource-Modell bedient man sich umstandslos kultureller Objekte aus der Gegenwart wie aus der Vergangenheit.

Dadurch kommt es in der Spätmoderne zu einer auffälligen Präsenz des Historischen, welche die Möglichkeiten kultureller Aneignung immens erweitert. Dies ist in der Tat neu. Denn die Kultur der industriellen Moderne präferierte eindeutig das Gegenwärtige und Zukunftsorientierte als Ausdruck überlegener Modernität gegenüber der rückständig geltenden Vergangenheit. Andreas Reckwitz betont: „In der spätmodernen Hyperkultur erscheinen kulturelle Elemente aus der Vergangenheit hingegen als willkommene Bereicherung des Hier und Jetzt.“

Das Historische erweist sich als besonders vielversprechend

Mehr noch: Unter dem Aspekt ihres Singularitätswertes erweist sich Historisches als besonders vielversprechend. Denn es wartet mit komplexen und andersartigen Narrativen und Bedeutungsschichten auf und hat daher sehr gute Chancen, als authentisch anerkannt zu werden. Die für die Spätmoderne typische Renaissance des Historischen ist besonders sichtbar im Bereich der Stadtentwicklung. Diese manifestiert sich dort in der Aufwertung der Altbauviertel, die zum bevorzugten Wohnort der neuen Mittelklasse geworden sind.

Sie befindet sich aber auch im Bereich des Reisens und dem besonderen Interesse des Kulturtouristen am „kulturellen Erbe“ sowie in der wiedererwachten Neugierde in Bezug auf sehr alte spirituelle und religiöse Traditionen. Die Renaissance des Historischen darf man im Übrigen nicht mit einem simplen Historismus verwechseln. Denn keineswegs wird nun umgekehrt das Gegenwärtige und Moderne gegenüber einer imaginären Klassik abgewertet. Vielmehr gilt, dass die Hyperkultur die Wertgrenze zwischen dem Gegenwärtigen und dem Historischen auflöst und durch einen unterschiedslosen Zugang zu beiden Sphären ersetzt. Quelle: „Die Gesellschaft der Singularitäten“ von Andreas Reckwitz

Von Hans Klumbies