Der singularistische Lebensstil formt den Körper

Auch der Körper ist in der Spätmoderne zu einem Gegenstand des singularistischen Lebensstils geworden. Das Bürgertum und der alte Mittelstand übten sich noch in ausgesprochener Körperzurückhaltung. Dagegen macht die neue Mittelklasse den Körper zu einem Gegenstand bewusster Gestaltung, Aktivierung und Erfahrung. Andreas Reckwitz erläutert: „Er wird in Bewegung gesetzt, und die spätmoderne Identität speist sich in erheblichem Maße aus primär körperbezogenen Praktiken.“ Zudem finden hier unerbittliche Prozesse der kulturellen Valorisierung statt. Die gesunden und gewandten Körper stehen den ungesunden, übergewichtigen und unbeweglichen Körpern gegenüber. Die industrielle Moderne hatte den Körper weitgehend funktionalisiert. Er war entweder Mittel zum Zweck der Erwerbsarbeit oder wurde – bei den „Kopfarbeitern“ – stillschweigend übergangen. Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt / Oder.

Die akademische Mittelklasse will ihren Körper „regieren“

Das 20. Jahrhundert war außerdem das Zeitalter des Massensports. Einerseits traten die leistungsfähigen Körper im Publikumssport gegeneinander an. Andererseits gab es und gibt es den kleinbürgerlichen Breitensport im Verein. Auch im Umgang mit dem Körper leiteten die Gegenkulturen der 1970er und 1980er Jahre eine Wandel ein, indem sie die Körpererfahrung, das Erleben des eigenen Leibes nobilitierten. Aus diesem Grund wuchs das Interesse für asiatische Bewegungskulturen ebenso wie für die spielerische Sportlichkeit des kalifornischen Lebensstils.

Dieser trat mit neuen Sportarten wie Windsurfen und Rollerskaten auf den Plan. Andreas Reckwitz erklärt: „In der spätmodernen Kultur wird der Körper in einer spannungsreichen Weise zum Gegenstand alltäglicher Sorge, vor allem in der akademischen Mittelklasse.“ Dabei ist nicht nur der Mechanismus der Singularisierung/Kulturalisierung am Werk, sondern eine Kombination aus verschiedenen Weisen, den Körper zu „regieren“. Erstens gerät er ins Visier von umfassenden Bemühungen der Selbstoptimierung.

Physische Attraktivität steigert den Selbstwert

Andreas Reckwitz stellt fest: „Der Körper wird zum Gegenstand eines Trainings, das Fitness und Gesundheit sichern und steigern will.“ Es ist markant: Für die alte bürgerliche Klasse war Korpulenz ein Zeichen von Stattlichkeit, Seriosität und Wohlstand. Durchtrainierte Kreative und Führungskräfte stellen in der Spätmoderne durch Marathonläufe ihre Belastungsfähigkeit und Selbstdisziplin unter Beweis. In dieser Fitness-Selbstoptimierung wird der Körper tatsächlich extrem standardisiert und damit rationalisiert.

Zweitens wird in der spätmodernen Kultur die Arbeit am physischen Erscheinungsbild, an der Attraktivität des Körpers im engeren Sinne wichtig. Andreas Reckwitz betont: „Während sie in den frühen Phasen der modernen Kultur fast ausschließlich ein weibliches Geschäft war, sind in der Spätmoderne alle damit befasst.“ Physische Attraktivität erscheint als eine Grundlage für das subjektive Gefühl des Selbstwertes und ist zugleich ein Faktor des sozialen Prestiges. Sie wird zum „Subjektkapital“. Ausgefeilte Techniken der Gestaltung eines attraktiven Körpers gewinnen so an Bedeutung. Quelle: „Die Gesellschaft der Singularitäten“ von Andreas Reckwitz

Von Hans Klumbies

Schreibe einen Kommentar