In der Spätmoderne existiert wieder eine Klassengesellschaft. Diese gibt es jedoch nicht nur im engen materiellen Sinne. Vielmehr handelt es sich auch und gerade um kulturelle Klassen. Neben den ungleich verteilten materiellen Ressourcen unterscheiden sich die Klassen hinsichtlich ihrer Lebensstile grundsätzlich voneinander. Das gilt auch für ihr kulturelles Kapital. Seit den 1980er Jahren wandelt sich die nivellierte Mittelstandsgesellschaft zur kulturellen Klassengesellschaft. Andreas Reckwitz ergänzt: „Tatsächlich war es die heute vergangene industrielle Moderne, die sich in Richtung einer weitgehend klassenlosen Gesellschaft entwickelte.“ Dies galt nicht nur für ihre realsozialistische, sondern auch für ihre westliche Version. Deren sozialstrukturellen Ausformung hat Helmut Schelsky treffend als „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ auf den Punkt gebracht. Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt / Oder.
Zur Mitte gehörten 90 Prozent der Bevölkerung
Ihre modellhafte Ausprägung fand sie in den „trente glorieuses“ der 1950er bis 1979er Jahre. Dabei realisierten besonders deutlich die USA, Westdeutschland und die skandinavischen Länder das Modell einer allumfassenden Mittelschicht. Die nivellierte Mittelstandsgesellschaft bildete das Korrelat der Industriegesellschaft und zugleich der Massenkultur. Die „Mitte“ bezeichnete hier nicht nur einen sozialstatistischen Durchschnitt, sondern war der kulturelle Ausdruck eines Lebensstils. Um die Mitte versammelte sich mehr als neunzig Prozent der Bevölkerung.
Zu „Mitte und Maß“ gehörten das Normalarbeitsverhältnis, die Normalfamilie, der normal angemessene Konsum etc. Im Zentrum der Lebensform der nivellierten Mittelstandsgesellschaft befand sich die Arbeit am Lebensstandard. Das heißt, an einer angemessenen, aber insgesamt normal erscheinenden Ausstattung mit Ressourcen, die Lebenskomfort für alle in ähnlicher Weise bedeutete. Diese nivellierte Mittelstandsgesellschaft ist allerdings seit den 1980er Jahren zusammen mit der Industriegesellschaft erodiert. Und an ihre Stelle ist mehr und mehr die Struktur einer neuen, nicht zuletzt kulturell grundierten und sichtbaren Klassenspaltung getreten.
Die ehemalige Mitte erodiert
Innerhalb der westlichen Gesellschaften am drastischsten ist dieser Umschlag in den Vereinigten Staaten von Amerika zu beobachten. Er prägt aber ebenso Großbritannien und Frankreich, und schließlich – ein wenig schwächer, aber deutlich – auch Deutschland. Andreas Reckwitz stellt fest: „Die damit einhergehenden Veränderung betreffen das obere Segment ebenso wie das untere.“ Die ehemalige Mitte erodiert. Dabei bildet sich die neue Mittelklasse einerseits, die neue Unterklasse andererseits heraus.
Für die nivellierte Mittelstandsgesellschaft kennzeichnend waren eine vergleichsweise geringe Ungleichheit der Einkommen sowie ein Massenwohlstand. In dessen Genuss kamen auch Arbeiter und kleine Angestellte. Zugleich herrschte eine gewisse Bildungsmobilität. Die Wohnviertel waren verhältnismäßig gemischt und homogen zugleich. Gemischt zwischen verschiedenen Berufsgruppen, die im Wesentlichen jedoch das gleiche Mittelschichtsleben praktizierten. Auch die persönlichen Beziehungen überschritten verhältnismäßig häufig die Grenzen zwischen verschiedenen Berufsgruppen und Qualifikationsniveaus. Quelle: „Die Gesellschaft der Singularitäten“ von Andreas Reckwitz
Von Hans Klumbies