Unfreiheit kann auch daraus erwachsen, dass man andere Kulturen und Lebensweisen nicht kennt und versteht. Die Welt ist unwahrscheinlich reich und zugleich bedrückend arm. Amartya Sen stellt fest: „Der Überfluss, in dem wir heute leben, ist beispiellos, und das Ausmaß an Ressourcen, Wissen und Technik, die uns heute zu Gebote steht und das wir für selbstverständlich halten, hätten unsere Ahnen sich nicht ausmalen können.“ Gleichzeitig ist die Welt voller entsetzlicher Armut und bedrückender Entbehrung. Es ist skandalös, wie viele Kinder unzureichend ernährt und gekleidet sind, misshandelt werden, des Lesens und Schreibens unkundig und unnötigerweise krank sind. Millionen sterben jede Woche an Krankheiten, die gänzlich abgeschafft sein oder doch wenigstens daran gehindert werden könnten, massenhaft zu töten. Amartya Sen ist Professor für Philosophie und Ökonomie an der Harvard Universität. Im Jahr 1998 erhielt er den Nobelpreis für Ökonomie.
Die Ungleichheit der Chancen verschiedener Menschen ist enorm
Kinder können, je nachdem, wo sie geboren sind, die Mittel und Möglichkeiten zu großem Wohlstand haben oder einem Leben unter schrecklichen Entbehrungen entgegensehen. Amartya Sen erklärt: „Die enorme Ungleichheit der Chancen verschiedener Menschen nährt Zweifel an der Fähigkeit der Globalisierung, den Interessen der Benachteiligten zu dienen. In den Parolen von Protestbewegungen sogenannter Globalisierungsgegner äußert sich denn auch ein verhärtetes Gefühl der Frustration.“
Geleitet von der These, die globalen Beziehungen seien statt von gegenseitiger Hilfe in erster Linie von Antagonismus und Gegnerschaft geprägt, möchten die Protestierenden die Benachteiligten der Welt vor den, wie sie es sehen, negativen Auswirkungen der Globalisierung bewahren. Kritik am Globalismus kam nicht nur auf den wütenden Demonstrationen zum Ausdruck, die fortwährend rund um die Welt stattfinden. Amartya Sen ergänzt: „Diese Sorgen finden außerdem wohlwollende Beachtung bei sehr viel mehr Menschen, die möglicherweise nicht geneigt sind, an wütenden Demonstrationen teilzunehmen, denen aber die Asymmetrien weit auseinanderklaffender Lebenschancen ebenfalls ungerecht und verwerflich erscheinen.“
Die globale Identität entwickelte nicht die erwartete moralische Kraft
Manche sehen in diesen Ungleichheiten ein Zeichen, dass die globale Identität bisher nicht jene moralische Kraft zu entwickeln vermochte, die man hätte von ihr erwarten können. Amartya Sen legt dar, dass es falsch ist, in den Mangelerscheinungen und getrennten Lebenschancen Nachteile der Globalisierung zu sehen – es handelt sich vielmehr um Versäumnisse sozialer, politischer und wirtschaftlicher Vorkehrungen, die gänzlich zufallsbedingt und keine unausweichlichen Begleiter des globalen Zusammenrückens sind.
Gleichwohl möchte Amartya Sen behaupten, dass die sogenannten Globalisierungskritiker einen positiven und wichtigen Beitrag dazu leisten können und auch tatsächlich leisten, in der öffentlichen Diskussion eine Reihe schwerwiegender Fragen zu unterbreiten, die berücksichtigt und bewertet werden müssen. Auch eine falsche Diagnose der Ursachen kann eine erhellende Untersuchung anstoßen, was zur Überwindung der ernsten Probleme, die es zweifellos gibt, geschehen muss. Quelle: „Die Identitätsfalle“ von Amartya Sen
Von Hans Klumbies