Alle Menschen haben plurale Identitäten

In den Thesen vom Kampf der Kulturen erhebt man zumeist den religiösen Unterschied zum Hauptmerkmal verschiedener Kulturen. Es stellt jedoch eine konzeptionelle Schwäche dar, Menschen nach einer einzigen Zugehörigkeit zu unterteilen. Zudem ist es historisch falsch, über die wichtigen Wechselbeziehungen zwischen den als getrennte und abgeschlossene Einheiten verstanden Kulturen hinwegzugehen. Nicht selten verteilen sich die Anhänger einer Religion über viele Länder und mehrere Kontinente. Amartya Sen erläutert: „Indien mag von Samuel Huntington als „hinduistische Kultur“ betrachtet werden. Aber mit annähernd 150 Millionen muslimischen Bürgern gehört Indien auch zu den drei größten muslimischen Ländern der Welt. Die religiöse Unterteilung lässt sich mit Klassifikationen von Ländern und Kulturen nicht ohne weiteres in Einklang bringen. Amartya Sen ist Professor für Philosophie und Ökonomie an der Harvard Universität. Im Jahr 1998 erhielt er den Nobelpreis für Ökonomie.

Religionszugehörigkeit ist keine ausreichende Klassifikation

Dieses Problem lässt sich überwinden, wenn man die Menschen nicht in große Kultureinheiten mit religiösen Korrelaten einteilt, sondern direkt in religiöse Gruppierungen. Damit käme man zu einer klareren und weniger mangelhaften Klassifikation, die verständlicherweise bei vielen Anklang gefunden hat. In der Kulturanalyse ist die Einteilung nach religiösen Zugehörigkeiten der Menschen seit einigen Jahren jedenfalls sehr gebräuchlich. Verhilft diese auf der Religion basierende Unterteilung zu einem besseren Verständnis der Menschheit?

Amartya Sen muss das bestreiten: „Diese Klassifikation der Weltbevölkerung mag kohärenter sein als die Einteilung nach Kulturen. Aber sie macht denselben Fehler, nur ein Zugehörigkeitsmerkmal zu verwenden, nämlich die Religion.“ Auch die Ersetzung der Kultur durch die Religion als Merkmal der Klassifikation ändert nichts daran, dass man die pluralen Identitäten der Menschen und die von ihnen gewählten Prioritäten zu berücksichtigen hat. In der sogenannten „islamischen Welt“ leben natürlich überwiegend Muslime.

Menschen haben in der Regel vielfältige Interessen

Aber verschiedene muslimische Menschen können sich in anderer Hinsicht stark voneinander unterscheiden und tun dies auch. Etwa in ihren politischen und gesellschaftlichen Werten, ihren beruflichen und philosophische Engagements, ihrer Einstellung zum Westen und so weiter. Amartya Sen stellt fest: „Was diese „übrigen Zugehörigkeiten“ angeht, können die Trennungslinien sehr unterschiedlich verlaufen. Wer allein die religiöse Klassifikation betrachtet, übersieht die zahlreichen – und vielfältigen – Interessen, die Menschen, welche zufällig muslimischer Religion sind, in der Regel haben.“

Die Unterscheidung kann extrem wichtig sein. Nicht zuletzt in einer Welt, in der islamischer Fundamentalismus und islamische Militanz an Einfluss gewonnen haben. Die westliche Abwehr dieser Erscheinungen geht of einher mit einem erheblichen, wenn auch nur vagen formulierten Misstrauen gegen Muslime insgesamt. Diese allgemeine Einstellung ist eine grobe Vereinfachung und übersieht die offenkundige Tatsache, dass es bei den politischen und gesellschaftlichen Ansichten starke Unterschiede unter den Muslimen gibt. Quelle: „Die Identitätsfalle“ von Amartya Sen

Von Hans Klumbies

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