Amartya Sen zeigt in seinem Buch „Die Identitätsfalle“, dass die falsche Illusion einer einzigen Identität den Krieg der Kulturen zwischen dem Westen und dem Islam konstruiert und fatal vorantreibt. Dabei wird die Welt immer mehr aufgeteilt in statische Blöcke aus Religionen, Kulturen oder Zivilisationen. Faktoren des menschlichen Daseins geraten dabei immer mehr aus dem Blick. Amartya Sen zählt dazu unter anderem den Beruf, die Wissenschaft, die Moral oder die Politik. Globale Bemühungen, der eskalierenden Gewalt Einhalt zu gebieten, scheitern vor allem an einer eindimensionalen Konstruktion von Identität. Das Geschäft der Fundamentalisten besteht in einer Miniaturisierung der menschlichen Existenz, mit der alle Ideologie der Gewalt ihren Anfang nimmt. Amartya Sen ist Professor für Philosophie und Ökonomie an der Harvard Universität. Im Jahr 1998 erhielt er den Nobelpreis für Ökonomie.
Die Welt kann sich in Richtung Frieden bewegen
Amartya Sen beschreibt nicht nur, wie die Spirale aus Identität und Gewalt entsteht, sondern auch, wie sie durchbrochen werden kann: „Was wir brauchen, ist ein klares Verständnis von menschlicher Freiheit und den Wahlmöglichkeiten, die sie eröffnet.“ Denn niemand ist zu einer einzigen Identität verdammt. Jeder kann seine Persönlichkeit gestalten und mitbestimmen. Amartya Sens Analyse macht vor allem eines klar. Die Welt kann sich ebenso in Richtung Frieden bewegen, wie sie jetzt auf Gewalt und Krieg hinzusteuern scheint.
Wenn man die Weltbevölkerung nach Zivilisationen oder Religionen unterteilt, gelangt man zu einer „solitaristischen“ Deutung der menschlichen Identität. Danach gehören die Menschen einer und nur einer Gruppe an. Mit einer solitaristischen Deutung wird man laut Amartya Sen mit ziemlicher Sicherheit fast jeden Menschen auf der Welt missverstehen. Denn im normalen Leben begreifen sich die Menschen als Mitglieder einer Vielzahl von Gruppen. Ihnen allen gehören sie an. Jede dieser Gruppen, denen allen eine Person gleichzeitig angehört, vermittelt ihr eine bestimmte Identität.
Jeder Mensch hat eine Vielzahl von Identitäten
Um ein menschliches Leben zu führen, muss man also nachdenken und eine Wahl treffen. Eine Aufteilung der Welt nach einem einzigen Kriterium stiftet weit mehr Unfrieden als das Universum der pluralen und mannigfaltigen Kategorien, welche die Welt prägen, in der die Menschheit heute lebt. Die Hoffnung auf Eintracht in der heutigen Welt beruht für Amartya Sen in hohem Maße auf einem klaren Verständnis der Vielzahl der menschlichen Identitäten. Daneben sollte man zu der Einsicht gelangen, dass diese sich überschneiden und damit einer scharfen Abgrenzung nach einem einzigen unüberwindlichen Einteilungskriterium entgegenwirken.
Amartya Sen rät in seinem Buch „Die Identitätsfalle“ allen Menschen, sich gegen die Verkürzung der Menschen auf eine Identität zu wehren. Sie müssen deutlich erkennen, dass sie viele verschiedene Zugehörigkeiten haben. Damit können sie zugleich die Möglichkeit einer Welt eröffnen, welche die Erinnerung an ihre qualvolle Vergangenheit zu überwinden vermag. Der Ausweg aus der Identitätsfalle ist für Amartya Sen nichts anderes als die Einsicht in die universale Vielfalt der menschlichen Existenz.
Die Identitätsfalle
Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt
Amartya Sen
Verlag: C. H. Beck
Gebundene Ausgabe: 207 Seiten, 4. Auflage: 2020
ISBN: 978-3-406-55812-2, 19,90 Euro
Von Hans Klumbies