Ein Identitätsgefühl kann eine Quelle nicht nur von Stolz und Freude, sondern auch von Kraft und Selbstvertrauen sein. Es überrascht Amartya Sen nicht, dass die Idee der Identität so allgemeine Zustimmung erfährt. Vom Grundsatz der Nächstenliebe bei den kleinen Leuten bis hin zu den anspruchsvollen Theorien des sozialen Kapitals und der kommunitaristischen Selbstdefinition. Und dennoch kann Identität auch töten und zwar hemmungslos töten. Ein starkes und exklusives Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gruppe kann in vielen Fällen mit der Wahrnehmung einer Distanz und Divergenz zu anderen Gruppen einhergehen. Amartya Sen weiß: „Solidarität innerhalb der Gruppe kann Zwietracht zwischen Gruppen verstärken.“ Amartya Sen ist Professor für Philosophie und Ökonomie an der Harvard Universität. Im Jahr 1998 erhielt er den Nobelpreis für Ökonomie.
Geteilte Identität erleichtert das Leben in der Gruppe
Gewalt wird dadurch angefacht, dass man leichtgläubigen Leuten, die in die Hände von kundigen Fachleuten des Terrors fallen, ausschließliche und kriegerische Identitäten aufschwatzt. Das Identitätsgefühl kann die Beziehungen zu anderen natürlich auch beträchtlich stärken und intensivieren. Die Ausrichtung auf eine bestimmte Identität kann Bindungen bereichern. Sie kann Menschen dazu bewegen, vieles füreinander zu tun. Und sie kann dazu beitragen, sich aus einer egozentrischen Lebensführung zu befreien.
Eine mit anderen in derselben sozialen Gemeinschaft geteilte Identität kann das Leben aller in dieser Gemeinschaft erleichtern. Ein Gefühl der Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft wird daher als Ressource betrachtet. Genau wie das Kapital. Diese Erkenntnis ist wichtig. Sie muss jedoch ergänzt werden durch die Einsicht, dass ein Identitätsgefühl viele Menschen entschieden ausschließen kann, während es andere freudig einschließt. Die Not der Exklusion kann unter Umständen Hand in Hand gehen mit den Wohltaten der Inklusion.
Identität ist kein generelles Übel
Wo ist Abhilfe zu finden, wenn ein auf Identität basierendes Denken zu brutalen Machenschaften führen kann? Amartya Sen antwortet: „Sie kann wohl kaum darin bestehen, die Berufung auf die Identität generell zu unterdrücken. Die Identität kann ja eine Quelle von Reichtum und Freundlichkeit sein. Aber sie kann auch Gewalt und Terror hervorbringen. Und es wäre nicht sinnvoll, die Identität insgesamt als ein Übel zu betrachten.“ Man muss sich vielmehr eine Einsicht zunutze machen. Nämlich dass die Stärke einer kriegerischen Identität durch die Macht konkurrierender Identitäten eingeschränkt werden kann.
Diese können natürlich auch die große Gemeinsamkeit einschließen, dass alle Personen Menschen sind, aber daneben viele sonstige Identitäten, die jeder gleichzeitig hat. Das führt zu anderen Einteilungen der Menschen und beschränkt die Möglichkeit, eine besonders aggressive Anwendung einer bestimmen Einteilung auszubeuten. Es gilt nicht nur, die Pluralität der Identitäten und ihre vielfältigen Implikationen anzuerkennen. Entscheidend ist auch die Einsicht, dass die zwingende Kraft und Bedeutung bestimmter Identitäten mit ihrer unausweichlichen Verschiedenheit eine Sache der freien Wahl ist. Quelle: „Die Identitätsfalle“ von Amartya Sen
Von Hans Klumbies