Die Klugheit sprengt die Fesseln der Unmündigkeit

Denken bedeutet, im mentalen Innenraum zu experimentieren. Menschen bedienen sich ihres immensen Erinnerungsschatzes, den sie über ihre Erziehung, Kultur und Bildung erworben haben, und erleben ihre Gedanken als persönliche Kreationen. Meistens merken sie nicht, dass sie der Erfahrung eines Mitmenschen nachplappern oder durch ein unbewusstes Motiv beeinflusst werden. Denn das Denken ist immer beeinflusst vom Milieu und der Geschichte eines Menschen. Allan Guggenbühl rät: „Um aus dieser Falle herauszukommen, müssen wir es wagen, unseren Irritationen zu folgen, das Außergewöhnliche anzudenken. Klugheit bedeutet, sich immer wieder aus der selbst auferlegten Unmündigkeit zu befreien, Nischen zu entdecken und Rituale zu entwickeln, in denen die Vorgaben des politisch korrekten Denkens und persönlicher Prägungen abgelegt werden.“ Allan Guggenbühl ist seit 2002 Professor an der Pädagogischen Hochschule Zürich tätig. Außerdem fungiert er als Direktor des Instituts für Konfliktmanagement in Zürich.

Träume regen das Denken an

Was irritiert, ist oft wichtig und enthält wertvolle Botschaften. Es gilt, solche Irritationen als Quelle neuer Ideen zu verstehen. Die Welt erschließt sich Menschen auch in ihren Träumen. Die alten Römer hatten die Pflicht, Träume, die den Staat betreffen, dem Senat zu erzählen. Man war überzeugt, dass sich in ihnen wichtige Botschaften verbergen. Heute dagegen ist die Vorstellung verbreitet, dass es sich bei den Träumen um Zufallsprodukte des Gehirns handelt, Überreste des Tages ohne tieferen Sinn.

Diese Sicht auf die Träume ist laut Allan Guggenbühl problematisch. Auch wenn Träume keine direkten Botschaften enthalten, beschenken sie Menschen mit Bildern, die zum Denken anregen und genutzt werden können. Allan Guggenbühl erklärt: „Bei unseren Träumen handelt es sich um wertvolle Kommentare zu unserem Seelenleben. Sie helfen, unser eigenes Leben zu sichten und unsere bewusste Sichtweise zu erweitern. Um sie zu verstehen, helfen Rituale und Traumdeutungen. Es geht nicht um die Suche nach der Wahrheit, sondern um die Erweiterung unseres Denkhorizonts.“

Slogans drohen Debatten zu ersticken

Slogans sind einprägsam. Man hat den Eindruck, sie bringen die Sache auf den Punkt: Kampf dem Rassismus, Harmonisierung der Schule, Gleichstellung der Geschlechter. Gegen die meisten Slogans kann man nichts einwenden. Sie beziehen sich auf Werte, die kein vernünftiger Mensch infrage stellt. Slogans drohen jedoch Debatten zu ersticken. Man propagiert ein Entwicklungsprojekt als „Schritt gegen die Armut“ und fragt nicht mehr danach, ob das Projekt eigentlich Sinn ergibt. Wer das Projekt kritisiert, gilt als engstirniger Egoist, der nichts gegen die Armut unternimmt.

Slogans können also dazu führen, dass man nicht mehr nach dem Sinn einer Maßnahme fragt. Niemand wagt, etwas gegen die Förderung der Bildung und Verhinderung von Gewalt zu sagen, auch wenn die entsprechenden Maßnahmen zweifelhaft sind. Wenn man jedoch nicht dagegen argumentieren kann, wird der Weg zu neuen Erkenntnissen versperrt. Wird eine Maßnahme mit einem Slogan begründet, kommt dies schon fast einem Denkverbot gleich. Quelle: „Die vergessene Klugheit“ von Allan Guggenbühl

Von Hans Klumbies