Alice Munro erhält 2014 den Nobelpreis für Literatur

Die kanadische Schriftstellerin Alice Munro lebt im Süden der Provinz Ontario, auf einer Halbinsel zwischen Toronto und Detroit, auf der Ostseite des Lake Huron in der Kleinstadt Clinton. Am vergangen Donnerstag hat die Schwedische Akademie dieser Autorin, die 82 Jahre alt ist, den Literaturnobelpreis zugesprochen. Ihr schriftstellerisches Werk umfasst eine Zeitspanne von 60 Jahren und ist nur einem Genre gewidmet: der Kurzgeschichte. Diese Short Storys handeln meist von Alltagssituationen, von der eigenen Familie, manchmal über Generationen, von Personen, die in Clinton oder einer anderen kanadischen Kleinstadt leben oder zumindest wohnen könnten. Auch wenn Alice Munro alltägliche Situationen beschreibt, wird dem Leser dabei manchmal ein bisschen bange. Denn er merkt bei aller Gewöhnlichkeit der Menschen, dass sie eigentlich an einem Ort zu etwas ganz Außergewöhnlichen stehen, dass sie möglicherweise ein existentielle Herausforderung meistern müssen. Dies scheint alles viel wahrscheinlicher zu sein, als der normale Trott des Alltags.

Meistens schreibt Alice Munro über das Schicksal von Frauen

Die Menschen, die Alice Munro in ihren Geschichten beschreibt, sind sich auf der einen Seite ähnlich und damit vergleichbar, auf der anderen Seite zeichnen sie sich auch unter oft seltsamen Umständen, durch eine faszinierende Individualität aus, die dem Leser als etwas Einzigartiges und Kostbares erscheint. Mit diesem verdoppelten Ich lavieren die Figuren von Alice Munro durch ihr Leben, das ihnen oft genug als undurchschaubare und unverständliche Veranstaltung entgegentritt.

Für viele der Protagonisten, die in den Kurzgeschichten von Alice Munro auftreten, ist es schon ein Erfolgserlebnis, den Tag überstanden zu haben, ohne dass dieser sich zur absoluten Katastrophe entwickelt hat. Die meisten Menschen, die Alice Munro in ihren Short Storys beschreibt, sind Frauen. Viele von ihnen führen ein prekäres Leben, zum Beispiel in einem Wohnwagen in der wilden Natur oder als Musiklehrerin ohne festen Job. Bei ihren Schilderungen zeichnet sich Alice Munro durch eine ungewöhnliche Verbindung zwischen Härte und Mitgefühl aus.

Alice Munro ist schon oft mit Anton Tschechow verglichen worden

Die Kurzgeschichte ist die amerikanische Version der europäischen Novelle. Die Novelle handelt zwar auch manchmal von ganz gewöhnlichen Menschen, aber sie geht einen Pakt mit dem Schicksal ein, so wie es plötzlich unerwartet zuschlägt. Sie ist für ein gebildetes Publikum geschrieben, das sich dem Müßiggang hingeben kann – also für ganz andere Menschen als jene, über die sie berichtet. In der Kurzgeschichte hingegen tritt das Schicksal in den Hintergrund und ist zuweilen nur noch als unscheinbarer Hauch im gewöhnlichen Alltag erhalten.

Die Short Story verlangt auch keine Schlusspointe und manchmal geschieht in den Geschichten so wenig, dass es der Leser beinahe für nichts halten könnte. Viele Literaturkritiker haben deshalb Alice Munro mit Anton Tschechow verglichen. Beide zeichnen sich durch eine ästhetische Konzentration auf das Alltagsleben aus, das sie in einen erzählenswerten Gegenstand verwandeln, wodurch ihre Geschichten einen elegischen Zug annehmen. Und beide verkörpern die Figur eines ebenso unbeteiligten wie dennoch allwissenden Erzählers.

Von Hans Klumbies