Alexandre Lacroix dringt in das Gedankenreich der Inka vor

Alexandre Lacroix hat in der Inkastadt von Ollantaytambo das Denkuniversum dieser Zivilisation erforscht. In seiner klassischen Form hat das Inkareich nur von 1400 bis 1533 bestanden, bevor es von den Truppen Francisco Pizarros zerschlagen wurde. Betrachtet man aber, welche Bauten die Inka errichtet haben, spürt man deutlich, dass es da technische Kenntnisse und, mehr noch, eine verblüffende Vernunft am Werk gegeben haben muss. Alexandre Lacroix fügt hinzu: „Nur handelt es sich dabei offensichtlich nicht um die griechische Rationalität. Was wir im Abendland recht bald getrennt haben, findet sich hier noch vereint, als befände ich mich diesseits aller für unsere Weltsicht konstitutiven Dualismen.“ Es gibt zum Beispiel weder einen Gegensatz zwischen Landwirtschaft und Architektur noch zwischen Natur und Kultur. Der Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph Alexandre Lacroix ist Chefredakteur des französischen Philosophie Magazine.

Die Inka unterscheiden nicht zwischen Mikro- und Makrokosmos

Die Inkastädte Ollantaytambo und Pisac schließen Felder in ihr urbanes Netzwerk ein, und die Pyramide von Pacaritampu fügt den menschlichen Geist so gut in das Relief der Landschaft ein, dass das Werk sozusagen in die physische Geografie eingeschmolzen ist. Laut Alexandre Lacroix gibt es im Gedankenreich der Inka auch keine Unterscheidung zwischen Makro- und Mikrokosmos. Als Beispiel nennt der Philosoph das Tal des Urubamba, der für die Inka einem irdischen Spiegel der Milchstraße entspricht, deren Entsprechung der Fluss ist.  

Zudem sind die Inkastädte so angelegt, dass sie bezogen auf den Fluss die Position der Sternbilder imitieren. Deshalb steht Ollantaytambo in einem engen Symmetrieverhältnis zum Sternbild des Lamas. Außerdem gibt es im Reich der Inka keine Unterscheidung zwischen dem Schönen, dem Nützlichen und dem Heiligen. Alexandre Lacroix nennt ein Beispiel: „Die Sorge um das Ästhetische ist in den landwirtschaftlichen Terrassierungen allgegenwärtig.“ Im Denkuniversum der Inka scheint alles eng miteinander verknüpft zu sein.

Die Inka besaßen sowohl mathematische Systeme als auch Aufzeichnungsträger

Alexandre Lacroix ist sich sicher, dass die Inka gewiss bemerkenswerte Kenntnisse – insbesondere in der Mathematik – hatten, wobei es sich allerdings um eine anderes Grundverständnis von Wissenschaft handelte. Alexandre Lacroix erläutert: „Bei den Inka wird Mathematisches als Immanentes begriffen, und erlernt wird es folglich, indem man die Natur beobachtet; es gibt hier keinen Unterschied zwischen Beobachtung der Natur und Konstruktion einer idealen mathematischen Sprache.“

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Inka durchaus mathematische Systeme und Aufzeichnungsträger besaßen, aber weder die einen noch die anderen gleichen denen der modernen Welt. Die mathematischen Systeme waren weit davon entfernt, abstrakt zu sein, sondern repräsentierten die komplexen Zusammenhänge des sozialen Lebens. Alexandre Lacroix ergänzt: „Und beim Aufzeichnungsträger waren die erhaltenen Spuren womöglich weder von einem Alphabet noch von er Lexik noch von einer Syntax regiert.“ Quelle: Philosophie Magazin NR. 02 / 2014

Von Hans Klumbies