Eine funktionierende Stadt wird zum Liebesobjekt ihrer Bürger

Soziales Denken muss sich laut Alexander Mitscherlich nicht mehr in erster Linie auf die materielle Armut beziehen, sondern es muss in erste Linie die Zahl der Bewohner eines Gebäudes ins Auge fassen. Denn in einem Wohnquartier mit den fünfstöckigen Giebelblocks, die zeilenweise angeordnet sind, kann sich städtische Humanität nur schwer entfalten. Alexander Mitscherlich schreibt: „Es ist ein Kapitalfall der Tötung des humanen Antriebes in und durch die verwaltete Welt.“ Er fordert Investitionen von erfinderischer Gestaltung, die solche Gebäudemassen fermentierend durchdringt. Alexander Mitscherlich stellt sich auch die berechtigte Frage, wer eigentlich die Bewohner von Massensiedlungen vertritt. Denn an den restaurierten und gedunsenen Städten sieht man, wohin Stadtplanung führt, wenn sie ohne den stattfindet, für dessen Bedürfnisse sie unternommen wird.

Die Stadt wird zur strahlenden Szenerie in den Tagen der Feste

Entbehrungen hinterlassen laut Alexander Mitscherlich Gefühlseinstellungen, die man oft nicht mehr so leicht loswerden kann. Unbestreitbar ist für ihn jede Neigung, die einer Stadt entgegengebracht wird, oder einem Quartier, ein Ergebnis psychologischer, nämlich affektiver Prozesse. Alexander Mitscherlich schreibt: „Wenn sie in Ordnung ist, wird die Stadt zum Liebesobjekt ihrer Bürger. Sie ist ein Ausdruck einer kollektiven, Generationen umspannenden Gestaltungs- und Lebenskraft.“

Eine funktionierende Stadt besitzt eine Jugend, unzerstörbarer als die der Geschlechter, ein Alter, das länger dauert als das der Einzelnen, die hier aufwachsen. Die Stadt wird in diesem Fall zur tröstlichen Umhüllung in Stunden der Trauer und zur strahlenden Szenerie in den Tagen der Feste. Alexander Mitscherlich fügt hinzu: „Die Stadt repräsentiert in einer Vielheit ihrer Funktionen eine ältere als die väterliche Welt. In ihren großen Exempeln ist sie unverhüllt eine Muttergeliebte.“

Ein Stilgefühl der besonderen Art ist der sogenannte Stadtgeist

Die geliebte Stadt kann sich sogar zu einem Wesen entwickeln, dem der Bürger verfallen ist und von dem er nicht mehr loskommen kann. Er bleibt ewig ihr Kind oder ihr zärtlicher Besucher. Oder die Menschen übertragen ihre Enttäuschungen auf die Stadt, als seien sie von ihr verschuldet, kehren ihr den Rücken zu und entfremden sich ihr. Dann entfernt sie sich wie die ungeliebte Kindheit, die die Menschen dort verbrachten. Städte prägen sich den Bürgern gestalthaft ein, aber auch gleichsam in ihrer Anatomie.

Die Stadt kann aber auch der Ausdruck der Geschichte von Gruppen sein, ihrer Machtentfaltung und Untergänge. Außerdem verknüpft ein unsichtbares, aber sehr wirksames Band Einstellungen, Mentalität, Beweglichkeit, Traditionalismus der in einer Stadt lebenden Aneinanderreihung der Geschlechter. Ein Stilgefühl besonderer Art ist für Alexander Mitscherlich der sogenannte Stadtgeist. Neigung und Abneigung gegenüber der Gestalt einer Stadt bilden sich auf so komplexe Weise, dass sich auch keine noch so kluge Theorie der Ästhetik erklären kann.

Kurzbiographie: Alexander Mitscherlich

Der Arzt, Psychoanalytiker und Schriftsteller Alexander Mitscherlich, geboren am 20. September 1908 in München, leitete von 1960 bis 1976 das von ihm gegründete Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt am Main. Im Jahr 1969 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Zu seinen Hauptwerken zählen: „Auf dem Weg zu vaterlosen Gesellschaft“, „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“, „Die Unfähigkeit zu trauern“ sowie „Die Idee des Friedens“. Alexander Mitscherlich starb am 26. Juni 1982 in Frankfurt am Main.

Von Hans Klumbies