Eine kitschige Weltsicht verspricht Halt und Orientierung

Die Rationalität ist der Treibstoff des wissenschaftlichen Denkens, von sachlicher Abwägung und nutzenorientiertem Pragmatismus. Genau hierin aber wittert die sentimentale Seele die Ursache für die Ausbeutung, Ungleichheit, der Unfähigkeit zum Frieden und die Zerstörung der Natur. Alexander Grau fügt hinzu: „Diesem imaginierten Szenario der Entfremdung setzt das kitschige Bewusstsein eine Version absoluter Empathie, Gefühligkeit und Harmonie entgegen.“ Nur sie sind in der Lage, bestimmte Normen und Verhaltensweisen zu entwickeln. Diese sollen nicht nur einen schonenden Umgang der Menschen untereinander ermöglichen, sondern auch des Menschen mit der Natur. Dass in der Natur selbst Kategorien wie Empfindsamkeit, Empathie und Achtsamkeit überhaupt nicht vorkommen, stört das kitschige Gemüt naturgemäß wenig. Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist.

Das Versprechen von Sinn ist eng mit dem Kitsch verbunden

Denn erst das sentimentale Versprechen auf emotionale Geborgenheit, das allein die kitschige Weltsicht zu garantieren scheint, erschließt dem nach Erfüllung und Sicherheit Suchenden einen intellektuellen Schutzraum. Hier kann er eintauchen in eine Welt der Rührseligkeit, des Verständnisses und des Mitfühlens. Hier ist alles einfach, unmittelbar einsichtig und die Wahrheit kann gespürt werden. Es eröffnen sich den Suchenden Dimensionen von Sinn, die Halt und Orientierung bieten.

Alexander Grau liegt daher sicher nicht falsch, wenn er festhält, dass die psychologische Grundlage für die Kitschfähigkeit des Menschen, seine Disposition für Kitsch, in dem Bedürfnis nach Sinnerfahrung liegt. Oder kurz formuliert: Wo das Versprechen von Sinn aufkommt, ist Kitsch nicht weit. Dementsprechend sind für Alexander Grau Religionen die ersten kulturgeschichtlichen Formationen organisierten Erlebens von Kitsch. Mithilfe von Erzählungen, Bildern und Ritualen suggerieren Religionen einen Sinnzusammenhang, der bei rationaler und unvoreingenommener Betrachtung nicht gegeben ist.

Nicht jede Religion ist kitschig

Wenn Kitsch tatsächlich eine Übertünchung der Realität darstellt, eine Flucht vor der Wirklichkeit, die glauben machen will, die eigentliche Wirklichkeit zu sein, dass sind Religionen geradezu idealtypische Dispositionen des Kitsches. Das bedeutet laut Alexander Grau allerdings nicht, dass jede Religion und jede Form von Religiosität kitschig ist. Religion entbehrt des Kitsches, solange sie ein Modus bleibt, in dem Menschen sich den Tatsachen der Welt stellen und diese kommunizieren. Etwa, dass die Welt Leid und Schmerz bedeutet, Verlust, Endlichkeit, Kampf und Tod.

Die großen polytheistischen Erzählungen der Menschheit sind Ausdruck dieser in gewissen Sinne realistischen Weltsicht. Zudem sind sie Formen, dieses kollektive Wissen symbolisch zu verarbeiten. Hier, in den Mythen der Menschheit, etwa im Gilgamesch-Epos, im Alten Testament oder in den griechischen Sagen wird die Realität nicht beschönigt, und verkitscht schon gar nicht. Im Gegenteil, sie wird mit brutaler Klarheit geschildert, in einen Erklärungsrahmen gesetzt und so handhabbar gemacht. Quelle: „Politischer Kitsch“ von Alexander Grau

Von Hans Klumbies