Politischer Kitsch hat Hochkonjuntur

Alexander Grau vertritt in seinem neuen Buch „Politischer Kitsch“ die These, dass Deutschland in Rührseligkeit und sentimentalen Worthülsen versinkt. Dazu kommen eine zunehmende infantile Sprache und Gesten, die sich vor allem durch Betroffenheit auszeichnen. Sie sind es, welche die öffentlichen Debatten bestimmen. Alexander Grau schreibt: „Getrieben von der gefühligen Sehnsucht nach einer heilen Welt steigert man sich in einen ebenso vorlauten wie selbstgefälligen missionarischen Eifer hinein.“ Zudem analysiert der Autor, wie und warum sich im Gewand der Achtsamkeit eine selbstgerechte Aggression versteckt. Der moralische Kitsch baut dabei vor allem auf Sentimentalität. Sein Feld ist die zur Schau getragene Empfindsamkeit. Das kitschige Bewusstsein will nicht verstehen, es will dazugehören und geborgen sein. Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist.

Die Massenmedien ersticken sachliche Diskussionen im Keim

Politischer Kitsch hat laut Alexander Grau Hochkonjunktur. Der Grund dafür ist sein Erfolg. Das bedeutet: Kitschige Politkommunikation wird häufig nicht als unpassend oder peinlich empfunden, sondern als authentisch und ehrlich. Alexander Grau stellt fest: „Politiker oder Aktivisten, die sich kitschiger Floskeln und Inszenierungen bedienen, wirken anscheinend besonders glaubwürdig, einfühlsam und bodenständig.“ Kitschige Kommunikation, so vermutet der Autor, gilt als Indiz für Menschlichkeit, echte Gefühle und Anteilnahme.

Der Siegeszug des politischen Kitsches ist Teil eines soziologisch und kulturell bedingten Mentalitätswandels. Der allerdings ist alles andere als harmlos. Denn eine Gesellschaft, die politische Fragen zunehmend im Modus zur Schau getragener Gefühligkeit behandelt, weil andere Formen der Kommunikation als zu nüchtern, abgeklärt oder sachbezogen empfunden werden, verweigert sich der Realität und gefährdet ihre Fähigkeit, Herausforderungen schnell und effizient zu lösen. Insbesondere die Massenmedien bevorzugen es, sachliche Diskussionen im Keim zu ersticken.

Kitsch ist die heimliche deutsche Ideologie

Alexander Grau meint, dass viele Deutsche ein besonders inniges Verhältnis zum Kitsch haben. Kitsch ist die heimliche deutsche Ideologie. Denn nur in Deutschland war und ist die Bevölkerung so standhaft flankiert von einem entschlossenen Willen zur Weltfremdheit und einer tief sitzenden Abscheu gegen jede Form des Pragmatismus. Denn in Deutschland ist man verliebt in Ideen, nicht in die Wirklichkeit. Deshalb gehört intellektueller Kitsch zur Standardausrüstung des durchschnittlichen deutschen Intellektuellen. Entsprechend will man eben mal die Welt retten, den Frieden, das Klima, die Artenvielfalt oder zumindest die Rotbauchunken im Teich nebenan.

Das kitschige Denken weiß sich als die höhere Wahrheit und Ausdruck des Weltgeistes. Also lässt es sich durch Einwände von außen kaum beeindrucken, denn es weiß sich selbst als die Wahrheit. Alexander Grau schreibt: „So spinnt der von intellektuellem Kitsch beseelte Deutsche weiter sein trübes Weltbild zusammen, eine abstoßende Melange aus Hypersensibilität, Achtsamkeit, Nabelschau, aggressiver Friedfertigkeit, naturheilkundlichem Firlefanz, Esoterik, Betulichkeit und einer Vorliebe für fade Rührseligkeit.“ Das alles hat kulturhistorische Gründe. Allerdings ist dieser Ungeist vor allem auch das Produkt prosperierenden Massenwohlstands.

Von Hans Klumbies