Das Bürgertum kanalisiert die Sinnlichkeit

Mit der Erhebung der Kunst in die Sphäre der Religion überwindet das Bürgertum seine asketische Tradition, wenngleich in domestizierter Form. Alexander Grau erläutert: „Im Kunstgenuss kann der Bürger leidenschaftlich sein, ohne seine Leidenschaften ausleben zu müssen. Er kann sich ohne Hingabe hingeben.“ Die Kunstrezeption erlaubt eine aseptische Sinnlichkeit. Sie erlaubt es bürgerliche Vorstellungen von Sittlichkeit mit Genuss zu verbinden. Diese Kompensationsfigur prägt das bürgerliche Handeln stark. Dies zeigt sich nicht nur in der emphatischen Kunstreligion, sondern auch in der Sakralisierung der bürgerlichen Ehe. Auch hier wird Sinnlichkeit kanalisiert und schließlich das legalisiert, was der bürgerlichen und asketischen Ethik zuwiderläuft. Allerdings genügt die Ehe als institutionalisierte Form der Triebabfuhr dem bürgerlichen Selbstanspruch bei Weitem nicht. Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist.

Die Geliebten erkennen sich als verwandte Seelen

Legitime Leidenschaft muss nach bürgerlicher Auffassung nicht nur institutionalisiert, sondern auch ideologisch gerechtfertigt sein und in der Lage, das entstandene Sinnvakuum zu kompensieren. Also wird die Verbindung zwischen Mann und Frau nicht nur ethisch, sondern auch spirituell und schließlich ästhetisch überhöht. In der Verklärung der romantischen Paarbeziehung verbindet sich protestantische Sittenstrenge, pietistischer Innerlichkeitskult und säkulare bürgerliche Weltdeutung.

Alexander Grau ergänzt: „Die puritanische Entsagung wird über den Gedanken des in ewiger Treue verbundenen Paares ins Leidenschaftliche transformiert.“ Diese Leidenschaft ist weniger eine körperliche, sondern eine des Inneren, der Seelen. Die Geliebte wird nicht körperlich begehrt, in ihr wird vielmehr die verwandte Seele erkannt. Oder wie Hermann Broch schreibt: „Jede alltägliche Zufallskopulierung wird zu den Sternensphären emporgehoben.“ Und es ist bezeichnenderweise die bürgerliche Literatur, die den monogamen Geschlechtsakt auf eine quasireligiöse Ebene hebt.

Die Romantik ist die erste bürgerliche Kunstepoche

Ihr Mittel dazu sind die ekstatische Sprache und die süßlichen Allegorien pietistischer Erbauungsliteratur. Diese huldigt nun nicht mehr Gott, sondern soll der eigenen Empfindsamkeit die Authentizität beglaubigen. Entsprechendes gilt für die scheinbare Naturverklärung des Sturm und Drang und der Romantik. Um die Natur an sich geht es weder den Stürmern und Drängern noch den Romantikern. Und auch die jeweils Angebetete spielt eine eher untergeordnete Rolle.

Zum Ausdruck kommt hier vielmehr eine narzisstische Begeisterung für das eigene Gefühl und die eigene Sensibilität. Diese beglaubigt man idealerweise dadurch final, dass man sich eine Kugel durch den Kopf schießt. Die eigene Empfindsamkeit entwickelt sich nicht nur zur Gewähr wahrhaftiger Gefühle, sondern zugleich zur Beglaubigung persönlicher Authentizität. In ihrer Amalgamierung von Individualismus, Empfindsamkeit, Naturschwärmerei und einer hocheuphorischen Sprache erweist sie sich Romantik als erste explizit bürgerliche Kunstepoche. Hier schafft der Bürger seine Parallelwelt. Er raubt dabei der Kunstbetrachtung, dem Naturerleben und der Sinnlichkeit ihre eigentliche Realität und überhöht sie zu einer Wahrnehmung eines angeblich ewig Schönen. Quelle: „Politischer Kitsch“ von Alexander Grau

Von Hans Klumbies

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