Ágnes Heller erzählt in ihrem letzten Buch „Vom Ende der Geschichte“ von der Geburt und dem Tod der Tragödie, vom Anfang und vom Ende der Philosophie. Dabei erklärt sie die Geschichte der europäischen Kultur von ihrem Ende her. Denn sie vertritt die These, dass man eine Geschichte immer nur von ihrem Ende her versteht. Der Endpunkt ist der Ausgangspunkt der Rekonstruktion, des Verstehens des Ganzen. Gerade als die Tragödie in den Werken von Euripides zu Ende ging, wurde die Philosophie von Sokrates geboren und blühte auf, bis sie bei Aristoteles endete. Ágnes Heller, Jahrgang 1929, war Schülerin von Georg Lukács. Ab 1977 lehrte sie als Professorin für Soziologie in Melbourne. 1986 wurde sie Nachfolgerin von Hannah Arendt auf deren Lehrstuhl für Philosophie an der New School for Social Research in New York. Ágnes Heller starb am 19. Juli 2019 in Ungarn.
Die Tragödie und das Schicksal haben viel gemeinsam
Dasselbe geschah, wie es geschehen musste, in der europäischen Geschichte. Annähernd zu der Zeit, als die moderne Tragödie in den Werken von Shakespeare bis Racine die Szene verließ, begann die Philosophie mit René Descartes aufzublühen, um mit Hegel an ihr Ende zu kommen. Das Ende der Tragödie war wieder einmal der Auftakt zur Geschichte der Philosophie – vom Anfang bis zu ihrem Ende. Zuerst geht Ágnes Heller davon aus, dass die Tragödie und die Philosophie etwas gemeinsam haben.
Letztere erscheint, wenn Erstere verschwindet, als ob die Philosophie eine ähnliche Botschaft wie die Tragödie enthielte, während sie sie in gewisser Weise ersetzt. In ihren Untersuchungen fasst Ágnes Heller sowohl die Tragödie als auch die Philosophie als eine literarische Gattung auf. Aristoteles entdeckte in seiner Poetik früh eine wichtige Ähnlichkeit zwischen der Tragödie und der Philosophie. Beide konfrontieren den Betrachter oder den Leser mit etwas Wesentlichem über die Welt. Dabei handelt es sich um Geschichten von Menschen und Göttern, der menschlichen Ethik und dem Schicksal sowie dem Universum.
Die Europäer können nicht über die Moderne hinausschauen
Es gab für Ágnes Heller keine Philosophien, die das Drama in dem Maße beeinflussen konnten, wie es die radikale Philosophie tat. Dabei handelte es sich um die Philosophien von Marx, Kierkegaard, Nietzsche und Freud. Um in Hegels Worten zu sprechen: Der posthegelianische Weltgeist, der müde, erschöpfte, erscheint in radikalen Philosophien durch Verneinung. Sie negieren das Hegelsche System, negieren die Metaphysik insgesamt, negieren ihre eigene Zeit, die gegenwärtige Welt.
Hegel hat gesagt, Gott (der Weltgeist) habe die Geschichte erfunden, die er selbst erzählt hat. Doch, zumindest der Ansicht von Ágnes Heller nach, erfanden die Europäer sie zu Beginn der Moderne und schlossen sie mit der Selbstverwirklichung der Moderne ab: „Wir sind nicht in der Lage, über sie hinauszuschauen. (…) Die europäische Vergangenheit lebt in der Erinnerung an die Tragödie und denkt sich in der Geschichte der Philosophie. (…) Die schwierigsten Aufgaben liegen noch vor uns.“
Vom Ende der Geschichte
Die parallele Geschichte von Tragödie und Philosophie
Ágnes Heller
Verlag: Edition Konturen
Gebundene Ausgabe: 176 Seiten, Auflage: 2020
ISBN: 978-3-902968-54-8, 19,80 Euro
Von Hans Klumbies