Alle Hochkulturen verfügen über Weisheitsliteratur

Jede Handlung, jeder Satz hat eine Bedeutung. Aber hat das Ganze auch einen Sinn im Leben eines Menschen? Warum ist etwas so und nicht anders? Warum gibt es etwas und nicht nichts? Solche und ähnliche Fragen und alle Antworten auf diese Fragen beruhen zum Teil auf Alltagserfahrungen, zum Teil auf den vorherrschenden Weltauffassungen. Ágnes Heller fügt hinzu: „Antworten auf diese und ähnliche Fragen, ob in Prosa oder Poesie, niedergeschrieben oder mündlich vermittelt, befriedigen das elementare Bedürfnis, die Welt zu erkennen.“ Alle bekannten Hochkulturen verfügen über Weisheitsliteratur, innerhalb der Religionen oder getrennt davon, die Antworten auf solche brennenden Fragen bieten. Ab 1977 lehrte Ágnes Heller als Professorin für Soziologie in Melbourne. 1986 wurde sie Nachfolgerin von Hannah Arendt auf deren Lehrstuhl für Philosophie an der New School for Social Research in New York.

Sokrates prägt das Wort „Philosophie“

Es gibt einige Gemeinsamkeiten in der Weisheitsliteratur. Diese sind auf die Conditio humana zurückzuführen und allen kulturellen Gedächtnissen gemeinsam. Aber es existiert auch Einzigartiges, Verschiedenes, das auf Unterschiede in der kulturellen Erinnerung gründet. Es findet sich eine besonders bedeutende Weisheitsliteratur in Indien, in China, in der Bibel. Außerdem in Persien und natürlich auch in Griechenland. Doch obwohl ihre Funktion ähnlich ist, sind es keine Philosophien.

Das Wort „Philosophie“ prägte Sokrates eben zu dem Zweck, um es als „Liebe zur Weisheit“ von den wirklichen oder vermuteten Autoren der Weisheitsliteratur zu unterscheiden. Ágnes Heller erklärt: „Die meisten der sogenannten vorsokratischen Philosophen waren wie die ersten ionischen Philosophen, soweit sie aus ihren Fragmenten überliefert sind, Autoren der Weisheitsliteratur.“ Sie wurden nur deshalb in die Geschichte der Philosophie aufgenommen, weil Platon sie als seine Vorgänger betrachtete und sie zitierte.

Die Philosophie und die Tragödie stammen aus Griechenland

Die Weisheitsliteratur steht laut Ágnes Heller weder „tiefer“ noch „höher“ als die Philosophie, sie ist einfach anders. Eine Schlussfolgerung kann Ágnes Heller bereits ziehen: „Weder Tragödie noch Philosophie wurzeln in der anthropologischen Bedingung. Sie gehören allenfalls zu den Ausdrucksformen oder Manifestationen unseres angeborenen „Wunsches zu wissen“.“ Am Ende schuf das athenische Genie zwei neue literarische Gattungen: die Tragödie und die Philosophie.

Es sind europäische Genres. Ihre Geburt geschah in Europa, sie blühten in Europa und sterben schließlich in Europa. Wann immer sich ein Genre etabliert hat, kann man „eintreten“, es am Leben erhalten, indem man es fortsetzt. Etwas Ähnliches ist einmal mit dem „Epos“ geschehen. Ágnes Heller weiß: „Die epische Dichtung war in Zeiten der Entstehung eines Volkes so weit verbreitet wie die Weisheitsliteratur.“ Große epische Gedichte sind aus Indien, Persien, Griechenland und Island bekannt. Quelle: „Vom Ende der Geschichte“ von Ágnes Heller

Von Hans Klumbies