Die Stoiker bestimmen den Affekt als falsches Urteil

Theorie und Analyse in der Philosophie und Rhetorik des 17. und 18. Jahrhunderts wären ohne die Vorarbeit des Aristoteles nicht möglich gewesen. Er hat zwar seinen Gedanken keine systematische Form gegeben, aber über die Affekte quasi nebenbei in seinen Schriften wie der „Nikomachischen Ethik“, „Rhetorik“ und „De anima“ reflektiert. In ihnen ist die Formulierung vom Erleidnis der Seele zentral. Aristoteles entwirft eine Bewegungstheorie mit den Kategorien Aktivität und Passivität, die besonders in seiner Schrift „De anima“ entfaltet wird. Danach besitzt die Seele des Menschen ein wahrnehmendes, denkendes und bewegendes Vermögen, Streben und Vorstellungskraft. In der Ethik geht es Aristoteles um Mäßigung, den Ausgleich zwischen extremen Handlungen oder Affekten. Das „Erleidnis der Seele“ ist ein Bewegtwerden der Seele mit eigener Aktivität und mit dem Körper geteilter Passivität.

Pathos ist für die Stoiker die Perversion der Vernunft

Die Affekttheorie der Stoiker baut auf Aristoteles auf, beurteilt die Affekte jedoch als maßlos und naturwidrig, falsch und ethisch unerwünscht. Im Gegensatz zu Aristoteles entwickelt die Stoa eine systematisierte Lehre. Grundarten der Affekt sind: Schmerz/Unlust, Furcht, Begehren und Freude/Lust. Sie werden als eine Weise menschlichen Verhaltens aufgefasst. Deshalb müssen sie sich in Termini urteilender und wählender Vernunft definieren lassen. Die Stoiker bestimmen den Affekt als falsches Urteil.

„Pathos“ gilt in stoischer Sicht als Perversion der Vernunft. Dennoch verwahrten sich die Stoiker dagegen, dass ihr Apathie-Ideal als Gefühllosigkeit verstanden würde. Eine vollkommene Freiheit von Affekten steht im Zentrum der Glücksethik der Stoa. Die ethische Bedeutung und die negative Bewertung der Affekte, die von den Stoikern im Widerspruch zu Aristoteles eingeführt werden, sind für die spätere Philosophie und die Kulturgeschichte der Emotionen von großer Bedeutung. Marcus Tullius Cicero, der von 106 bis 43 vor Christus lebte, ist ein Schüler des Stoikers Poseidonios und vermittelt wichtige stoische Inhalte, philosophiert jedoch eklektisch.

Das Herz erzeugt die Beredsamkeit

Das System von Marcus Fabius Quintilian, der von 30 bis 96 nach Christus lebte, in der „Institutio Oratoria“ ist aus verschiedenen Traditionen synthetisiert. Die aristotelischen Zentralbegriffe „Ethos“ und „Pathos“ sind noch immer die spezifische Domäne des Redners. In der „Institutio Oratoria“ heißt es: „Seine Aufgabe und Anstrengung liegt im Hervorbringen der Gefühlswirkungen. Solcher Gefühlsregungen aber gibt es, wie wir seit alters gelernt haben, zwei Arten: die eine nennen die Griechen „pathos“, was wir im Lateinischen richtig und in eigentlichem Sinn mit Affekt wiedergeben.“

Marcus Fabius Quintilian fährt fort: „Die andere „ethos“, wofür wenigstens nach meinem Empfinden die lateinischen Sprache kein Wort hat: mores nennt man es.“ Auf zwei Stellen seines Lehrbuchs für den Redner wird sich die Affektentheorie bis ins 18. Jahrhundert berufen: ersten auf den Satz, dass es das Herz ist, das die Beredsamkeit erzeugt und zweiten auf den Topos, dass wir selbst bewegt werden, der auf die Notwendigkeit der Selbstaffektion abhebt, wie es bereits Horaz am Beispiel des Weinens in der „Ars poetica“ gefordert hatte. Quelle: „Handbuch Europäischer Aufklärung“ von Heinz Thoma (Hrsg.)

Von Hans Klumbies