Wilhelm Genazino macht sich Gedanken über den Begriff Heimat

Die meisten Menschen siedeln sich dort an, wo sie einen Arbeitsplatz finden, das Geheimnis der Liebe entdecken oder ein Heim mieten beziehungsweise kaufen. Wilhelm Genazieno formuliert diese Tatsachen mit ganz anderen Worten: „Wo sie von der Wirklichkeit nicht gar zu sehr vergewaltigt werden.“ Heimat ist für den Schriftsteller die Zugehörigkeit zu bestimmten Verhältnissen und das zuverlässig Wiederkehrende. Denn Heimatgefühle bilden sich seiner Meinung nach ohne Absicht an zufälligen Orten. Die Heimat arbeitet sich ohne Plan, fast nicht zu bemerken, aber doch mit großer Intensivität ins Gehirn des Betroffenen. Wilhelm Genazino schreibt: „Es dauert lang, bis wir eines Tages merken, dass wir dort, wo wir nicht mehr loskommen, Wurzeln geschlagen haben, die wir dann Heimat nennen.“ Wilhelm Genazino ist Schriftsteller und lebt in Frankfurt am Main. Zu seinen neuesten Werken zählen „Wenn wir Tiere wären“ und „Idyllen in der Halbnatur“.

Seine erste Heimat vergisst der Mensch nie mehr

Dort in der neuen Heimat, in der viele Menschen eigentlich nur vorübergehend verweilen wollten, bauen sie sich ein Häuschen und sorgen für Nachwuchs. Im Stillen ist die Heimat laut Wilhelm Genazino ein Wort für Untrennbarkeit geworden. Oder ein Synonym für den ersten möglichen Anblick der Welt, den Menschen lange Zeit für den einzigen gehalten haben. Wilhelm Genazino erklärt: „Daraus ergibt sich eine seelische Fixierung, die sich in eine lebensgeschichtliche Bindung verwandelt.“

Es ist dann für Wilhelm Genazino gleichgültig, wo sich ein Mensch später aufhält, denn die Bilder der ersten Heimat zeichnen sich durch den Status der Unvergesslichkeit aus, wie schwach sie später auch nur noch ausgeprägt sein mögen. Die Fixierung ist so fesselnd, dass sich aus ihr das Phänomen der durchscheinenden Bilder entwickelt. Wilhelm Genazino erläutert: „Das heißt, wir sehen auch dann, wenn wir fern der Heimat sind, durch die fremden Anblicke hindurch die einmaligen Bilder der ersten Heimat.“

Die innere Unfassbarkeit des Heimatgefühls ist die stärkste offene Erfahrung des Menschen

In dem Wort Heimat steckt für den Schriftsteller Wilhelm Genazino auch das starke Wort „heimlich“. Das Entstehen der Heimatgefühlen geschieht in der Regel nicht in der Öffentlichkeit und ohne Diskurs. Wilhelm Genazino nennt den Grund dafür: „Die Heimatempfinder fühlen sich dadurch geschützt. Denn innere Zugehörigkeit zu einer Stadt oder einer Landschaft ist meistens mit heftiger Scham besetzt.“ Dem Menschen der Moderne ist es peinlich, wenn sich in ihm so etwas Altertümliches wie Heimat ausgebreitet hat.

Wilhelm Genazino vergleicht die Entstehung von Heimatgefühlen oft mit dem allmählichen Eindringen des Zuhörers in ein bestimmtes Musikwerk. Er schreibt: „Plötzlich, nach langer Zeit, stellt sich heraus, dass wir eine Sonate von Vivaldi oder eine Sinfonie von Haydn mehr mögen als andere Sonaten und Sinfonien, ohne dafür die Gründe zu kennen.“ Wenn die Zuneigung anhält, sind die Menschen irritiert, weil nun sogar Heimatgefühle in dieses Hobby eingedrungen sind. Die innere Unfassbarkeit ist für Wilhelm Genazino vielleicht sogar die stärkste offene Erfahrung des Menschen. Das Individuum redet von etwas, was es nicht kennt, aber heftig begehrt. Es träumt von etwas, das sich ihm nicht zeigt, es aber fortlaufend verführt. Quelle: Chrismon

Von Hans Klumbies