Philosophische Texte wollen interpretiert werden

Die praktische Erfahrung beim Lesen philosophischer Bücher ist gleichermaßen faszinierend wie potentiell frustrierend. Wilhelm Berger erklärt: „Wer zu lesen beginnt, tritt in einen ungeheuren historischen und aktuellen Fundus ein, der sich noch dazu in alle möglichen Richtungen öffnet, zur Literatur hin genauso wie zum Beispiel zur Geschichtswissenschaft. Jedes einzelne philosophische Buch ist lesenswert, wenn es diese Öffnung ermöglicht.“ Das Wort Text kommt vom lateinischen textus, das bedeutet Geflecht oder Gewebe. Ein Text gehört also der Ordnung einer Kultur an, die er als dieses Gewebe zugleich reproduziert und erweitert. Auf dieser Ebene geht es um Verweise, um die offensichtlichen oder hintergründigen Beziehungen zwischen einzelnen Texten. Wenn er gelungen ist, wirkt ein Text oft wie ein Stein, der in einen Teich von Begriffen und Problemen fällt. Professor Wilhelm Berger lehrt am Institut für Technik- und Wissenschaftsforschung an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.

Es gibt verschiedene Arten des Interpretierens

Philosophische Texte haben die Eigenschaft, dass sie interpretiert werden wollen. Dabei gibt es verschiedene Arten des Interpretierens von Texten. Wer interpretiert, versucht die kommunikativen Absichten des Textes und die Gedanken des Autors herauszufinden; nicht explizit geäußerte Gedanken im Text zu entschlüsseln; den psychologischen Hintergrund der Absichten und Gedanken zu rekonstruieren; Strukturen des Textes herauszuarbeiten; Wirkungen des Textes nachzuvollziehen; schließlich die Gültigkeit und Richtigkeit des Textes zu beurteilen.

All diese Tätigkeiten erfordern Wissen und Kompetenzen, die sich erst durch das Tun aneignen lassen. Es hat also keinen Sinn zu warten. Die Tätigkeiten werden vielmehr alle, die einen Text verstehen wollen, unwillkürlich oder professionell immer schon durchführen. Wilhelm Berger fügt hinzu: „Über das Philosophieren hinaus ist die Textinterpretation überhaupt eine der wichtigsten theologischen und literaturwissenschaftlichen Methoden.“ Diese Methoden gehen prinzipiell in zwei Richtungen: in Richtung auf den Text oder in Richtung auf den Kontext.

Man kann den Lesenden auch als Reisenden beschreiben

Mit all diesen Interpretationsmethoden wird der Text selber aber oft so genommen, als ob er in sich tatsächlich so geschlossen wäre, wie er ja auch zwischen seinen Buchdeckeln vor einem liegt. Gedanklich ermöglicht wird diese Schließung durch die Position des Autors. Wilhelm Berger erläutert: „Es geht um seine Absichten, Gedanken, Hintergründe, es geht um die Wirkungen, die er erzielen will, und um die Richtigkeit, für die er einsteht.“ Gerade das Verstehen der persönlichen Eigentümlichkeiten, Vorurteile und Ideologien des Autors kann beim Lesen hilfreich sein.

Lesen im besten Sinne heißt für Wilhelm Berger, sich in einem Text und mit Hilfe dieses Textes zu bewegen. Daher kann man Lesende auch als Reisende beschreiben, die sich auf dem Gelände eines Anderen bewegen, wildern wie Nomaden in Gebieten, die sie nicht beschrieben haben, und rauben gar die Reichtümer Ägyptens, um sie zu genießen. Aus ihrer passiven Rolle befreit, bewegen sich die Lesenden im Spannungsverhältnis zwischen ihrer eigenen Interpretation und dem Text. Sie stehen jenseits einer bloßen Beziehung zwischen Empfänger und Sender. Quelle: „Was ist Philosophieren?“ von Wilhelm Berger

Von Hans Klumbies