Der erste philosophische Satz stammt von Thales von Milet

Der erste Satz, der in der Geschichte des Abendlandes als philosophisch gilt, handelt vom Anfang. Thales von Milet soll um 584 vor Christus gesagt haben: „Anfang und Ziel von Allem ist das Wasser.“ Später fügt der griechische Philosoph dazu: „Und alle Dinge bewegen sich und seien im Fluss, weil sie mit der Natur des ersten Urhebers ihres Werdens übereinstimmen.“ Diese Sätze sind laut Wilhelm Berger von höchster Radikalität. Denn auf der einen Seite vollziehen sie einen radikalen Bruch mit dem Mythos, denn die als wirklich Geschehen erzählten Anfänge werden zu einem einzigen, unpersönlichen Prinzip – der Anfang tritt in dieser Hinsicht in eine absolute Distanz zu den konkreten Menschen. Professor Wilhelm Berger lehrt am Institut für Technik- und Wissenschaftsforschung an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.

Heraklit: „Alles ist eins“

Auf der anderen Seite ist dieser Anfang aber auch nicht distanziert, er ist im Gegenteil absolut präsent, denn er wird als das eine Prinzip der Welt selber verstanden. Das griechische Wort „arche“ heißt sowohl der Anfang als auch die Herrschaft des Ursprungs. Wilhelm Berger erklärt: „Die Welt hat nicht angefangen und sich vom Anfang wegentwickelt, sondern der Anfang ist ihr aktuelles Prinzip: Was ist, ist anfänglich.“ Dieser Gedanke ist sehr fremd und ebenso schwer verständlich wie Heraklits Satz: „Die Sonne ist nicht nur […] an jedem Tage wieder jung, sondern kontinuierlich immer jung.“

Die Spannung zwischen Distanz und Präsenz des Anfangs ist für Wilhelm Berger das Entsetzliche des anfänglichen Denkens. Heraklit hat daraus die radikalste Konsequenz gezogen: Dass alles eins ist, wird sein Leitsatz. Aber der Vater dieser Einheit ist der Streit, der Gegensatz. Wilhelm Berger fügt hinzu: „Und weil etwas immer nur in Gegensätzlichkeit zu einem Anderen sein kann, was es ist, und weil die Gegensätze nicht schon immer gegeben sind, sondern im Prozess der Differenzierung immer erst entstehen und daher wieder vergehen, gerät alles in eine rasende Bewegung.“

Ohne Richtung gibt es auch keine Gründe

Platon kommentiert im Dialog „Theaitetos“ die Konsequenzen: „Dass nämlich ein Eins für sich selbst gar nichts ist […], sei es nun als etwas oder irgendwie beschaffen; sondern durch Bewegung und Veränderung und Vermischung untereinander wird alles nur, wovon wir sagen, dass es ist, es nicht richtig bezeichnend, denn niemals ist eigentlich irgendetwas, sondern immer nur wird es.“ Wenn die prozessierende Gegensätzlichkeit selbst zum Prinzip wird, ist kein ruhiger, tragender Hintergrund denkbar.

Der Prozess entwickelt sich nicht in eine teleologische Richtung. Und wo keine Richtung denkbar ist, gibt es auch keine Gründe. Das Eine ist damit im radikalsten Sinn das Viele. Heraklit erklärt: „Die schönste Weltordnung ist wie ein aufs geradewohl hingeschütteter Kehrichthaufen.“ Friedrich Nietzsche hat das am besten verstanden und schreibt in seinem Text „Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen“: „Das ewige und alleinige Werden, die gänzliche Unbeständigkeit alles Wirklichen, das fortwährend nur wirkt und wird und nicht ist, wie dies Heraklit lehrt, ist eine furchtbare und betäubende Vorstellung und in ihrem Einflusse am nächsten der Empfindung verwandt, mit dem jemand bei einem Erdbeben das Zutrauen zu der festgegründeten Welt verliert.“ Quelle: „Was ist Philosophieren?“ von Wilhelm Berger

Von Hans Klumbies