Die Liebe entzieht sich der Kontrolle des Willens

Im philosophischen Denken spielt die Liebe seit jeher eine ganz wesentliche Rolle. Die großen Philosophen der Antike bis zu denjenigen Gegenwart stellten sich unter anderem folgende Fragen: Was ist das Wesen der Liebe? Ist sie eine Tugend oder ein Laster? Welche Bedeutung hat die Liebe für das Verhältnis eines Menschen zu seinen Mitmenschen, für seinen Zugang zur Welt, zu Wahrheit und Weisheit, ja sogar zu Gott? Und wie prägt die Gesellschaft, in der man lebt, die Formen, in denen die Liebe sich äußert? Der Reclam-Band „Was ist Liebe?“ vereint die wichtigsten Texte von Platon bis zu Eva Illouz. Obwohl die Grundlage der Philosophie ausdrücklich aus einer spezifischen Liebe, nämlich der „Liebe zur Weisheit“, besteht, ist es umso erstaunlicher, dass die Mehrzahl der akademisch tätigen Philosophen in der Liebe immer noch keinen eigenständigen Gegenstand des denkerischen Interesses sieht.

Die Philosophie spricht heutzutage nur noch selten über die Liebe

So schreibt beispielsweise Emmanuel Levinas: „Ich misstraue dem Wort „Liebe“, das verdorben ist.“ Ähnlich skeptisch äußerst sich Jean-Luc Marion bezüglich der Tauglichkeit des heute vielfach disparat verwendeten Liebesbegriffs für eine erste philosophische Auseinandersetzung: „Die Philosophie spricht heute nicht mehr über die Liebe, oder nur selten. Dieses Schweigen ist übrigens besser, als dass sie sie schlecht macht oder verrät, wenn sie denn einmal wagt, über sie zu sprechen.“ Die 2500jährige Philosophiegeschichte zeigt allerdings, dass viele große Denker das Thema der Liebe vor solchen und anderen Reduktionismen bewahren wollten.

Der amerikanische Philosoph Robert Nozick beschreibt das verbindende Band der Liebe wie folgt: Wenn einem, den man liebt, etwas Schlechtes geschieht, dann geschieht auch einem selbst etwas Schlechtes. Wenn jemand, den man liebt, verletzt oder bloßgestellt wird, ist man verletzt; wenn ihm etwas Wunderbares geschieht, fühlt man sich in besserer Verfassung. Verliebtsein, Vernarrtheit ist eine intensiver Zustand, der vertraute Züge aufweist: man denkt fast immer an den Menschen; man will ihn ständig berühren und mit ihm zusammen sein und ist durch die Gegenwart des anderen erregt.

Alles Glücklichsein ist das Glück der Liebe

Der amerikanische Philosoph Harry G. Frankfurt weist der Liebe vier notwendige Merkmale zu: Erstens besteht sie grundsätzlich aus einer interessenfreien Sorge um das Wohl oder Gedeihen der geliebten Person. Zweitens wird die Person, die geliebt wird, um ihrer selbst willen geliebt. Drittens identifiziert sich der Liebende mit dem geliebten Wesen; das heißt, er betrachtet die Interessen des anderen als seine eigenen. Und viertens bindet die Liebe den Willen. Man kann die Liebe nicht wählen, da sie von Bedingungen bestimmt wird, die unserer unmittelbaren Kontrolle nicht zugänglich sind.

Für den deutschen Philosophen Josef Pieper hat alle Liebe nicht nur zur natürlichen Frucht die Freude, sondern alles menschliche Glücklichsein ist im Grunde das Glück der Liebe. Die meisten Menschen lieben es, zu lieben. Sie empfangen in der Tat etwas Geliebtes, indem sie lieben. Das ganze menschliche Wesen ist seiner Meinung darauf angelegt, mit Grund sagen zu können: „Wie gut, dass es das gibt; wie wunderbar, dass du da bist!“ Auf der anderen Seite gilt natürlich auch wie Sigmund Freud es ausdrückt: „Niemals sind wir ungeschützter gegen das Leiden, als wenn wir lieben.“

Was ist Liebe?
Philosophische Texte von der Antike bis zur Gegenwart
Martin Hähnel, Annika Schlitte und René Torkler (Hrsg.)
Verlag: Reclam
Taschenbuch: 311 Seiten, Auflage: 2015
ISBN: 978-3-15-019347-1, 13,80 Euro

Von Hans Klumbies