Das subjektive Erleben verändert das Selbst

Viele Menschen manchen sich schnell Sorgen über Ereignisse, die unmittelbar bevorstehen und sie ängstigen, aber sie stellen sich die Zukunft nur selten in anschaulicher, emotionaler Weise vor. Walter Mischel fügt hinzu: „Die rosarote Brille und das psychische Immunsystem, die unser Wohlgefühl aufrechterhalten, schützen die meisten davor, länger bei solchen Ängsten zu verweilen.“ Sie erlauben es, bedrohlichen Risiken in der Zukunft wie Krankheiten, Verarmung und Einsamkeit im Alter weitgehend auszublenden. Wenn diese Ängste übermächtig werden, lenken sich die meisten Menschen schnell von ihnen ab. So vermeidet man Angst. Folglich gehen Menschen weiterhin alle möglichen Risiken ein, wobei sie die langfristigen Folgen ignorieren, die weit in der Zukunft liegen, die obendrein ungewiss sind und damit leicht abgetan werden können. Walter Mischel gehört zu den wichtigsten und einflussreichsten Psychologen der Gegenwart.

Mancher Mensch fühlt sich mit seinem zukünftigen Selbst eng verbunden

Der menschliche Körper macht tiefgreifende Veränderungen durch, wenn er altert. Walter Mischel stellt sich die Frage, ob sich dabei auch das subjektive Erleben des eigenen Selbst verändert. Wer sich mit seinem zukünftigen Selbst eng verbunden fühlt, wird die Auswirkungen seiner gegenwärtigen Handlungen auf sein späteres Wohlbefinden stärker berücksichtigen als Personen, die ihren Selbst in der Zukunft distanziert gegenüber stehen. Die Psychologen Yaacow Trope und Nira Liberman haben die Hypothese aufgestellt, dass Menschen eine einzige Dimension durchqueren, wenn sie sich die Zukunft vorstellen oder über die Vergangenheit nachdenken, nämlich die psychologische Distanz.

Diese Distanz kann sich auf die Zeit, den Raum, die Bekanntheit und die Gewissheit beziehen. Je größer die psychologische Distanz ist, umso komplexer und abstrakter wird die Verarbeitung von Informationen. Walter Mischel ergänzt: „Wenn sich die Ebene der Informationsverarbeitung vom abstrakten Denken über die Zukunft zum konkreten und anschaulichen Denken der Gegenwart verschiebt, verändert dies zugleich, was wir fühlen, wie wir planen und wie wir Entscheidungen treffen.“

Es lohnt sich die Zukunft zu simulieren

Dies hilft zu verstehen, weshalb Menschen ihre Entscheidungen über zukünftige Ereignisse und Engagements oftmals bereuen: Denn wenn die Zukunft zur Gegenwart wird, stehen sie plötzlich vor einer Reise, die sie nicht unternehmen, einer Veranstaltung, zu der sie nicht gehen, einem Aufsatz, den sich nicht schreiben, oder einem Familienbesuch, den sie nicht mache wollen. Die erfreuliche Nachricht lautet, dass alles gut sein wird, wenn man einfach wartet und ein bisschen nachdenkt, nachdem ein Ereignis vorüber ist.

Walter Mischel rät: „Wenn Sie wissen wollen, wie sich etwas in der Zukunft für sie anfühlen wird, sollten Sie versuchen, sich vorzustellen, Sie würden es in der Gegenwart tun. Simulieren Sie die Ereignisse so anschaulich und detailliert wie möglich, indem Sie vorwegnehmend durchleben.“ C. G. Jung soll gesagt haben, dass Menschen am liebsten gerade das erforschen, was sie selbst nicht gut können. Dies trifft ziemlich genau auf Walter Mischel selbst zu. Er ist zwar kein Muster der Selbstkontrolle – ganz im Gegenteil – aber im Kampf gegen seine Zigarettensucht hatte er Erfolg. Quelle: „Der Marshmallow-Test“ von Walter Mischel

Von Hans Klumbies