Das deutsche Bürgertum kritisiert die Prinzipien des Liberalismus

Der Schock der sogenannten Gründerkrise von 1873 bis 1879 führte zu einer weitreichenden Umorientierung größerer Teile des deutschen Bürgertums. Die Kritik an den Prinzipien des Liberalismus wurde lauter – sie bezog sich auf die freie, vom Staat weitgehend unabhängige Marktwirtschaft, auf den Freihandel, aber auch auf die politischen Maximen der Liberalen. Ulrich Herbert fügt hinzu: „Lauter wurde vor allem der Ruf nach einem stärkeren Eingreifen des Staates in die Wirtschaft: Er sollte den nationalen Markt gegen die verstärkt zu spürende Konkurrenz aus dem Ausland schützen und die mit dem Industriekapitalismus verbundenen Risiken für die deutschen Produzenten vermindern.“ Ulrich Herbert zählt zu den renommiertesten Zeithistorikern der Gegenwart. Er lehrt als Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg.

Die Sozialdemokraten wurden als Reichsfeinde bekämpft

Der Ruf nach Schutzzöllen war in der damaligen Zeit keine deutsche Besonderheit. Er erscholl in anderen Ländern, zum Beispiel in Frankreich, nicht weniger nachdrücklich als im Deutschen Reich. Allerdings waren die Auswirkungen dieser Schutzmaßnahmen in Deutschland insofern besonders stark zu spüren, als nicht nur für industrielle, sondern auch für landwirtschaftliche Produkte hohe Zölle gefordert wurden, was die Preise für Lebensmittel für einen längeren Zeitraum hoch halten und dadurch tiefgreifende Rationalisierungsmaßnahmen verhindert hat, insbesondere in der Landwirtschaft, wo sie besonders nötig gewesen wären.

Ein weiterer Konfliktherd der damaligen Zeit war der Umgang mit den Sozialdemokraten. Im Jahr 1875 hatten sich die beiden bis dahin eigenständigen Arbeiterparteien zur Sozialistischen Arbeiterpartei zusammengeschlossen und wurden, da sie die Bismarck´sche Nationalstaatsgründung als autoritär und undemokratisch ablehnten, von Beginn an stigmatisiert und als Reichsfeinde bekämpft. Ulrich Herbert ergänzt: „Das zwang die organisierten Arbeiter, ähnlich wie zuvor die Katholiken, noch weiter in jenen Kosmos ihres aus Vereinen, Genossenschaften, Zeitungen und Gewerkschaften bestehenden Milieus zurück, der sich bald zu einer abgeschotteten Gegenwelt entwickelte.“

Die Sozialdemokratie ist in Deutschland schnell sehr erfolgreich

Zugleich nahm die politische Bedeutung der Sozialdemokratie stetig zu. Ulrich Herbert nennt Zahlen: „Schon 1877 erzielte die vereinte Partei reichsweit immerhin 9,1 Prozent der Wählerstimmen; in den großen Industrieregionen wie Sachsen und Berlin sogar fast 40 Prozent.“ Diese sehr frühe und erfolgreiche Ausbreitung einer sozialistisch orientierten Arbeiterpartei gehört seiner Meinung nach zu den Besonderheiten der deutschen Geschichte. In keinem anderen Land war in dieser Phase eine vergleichbare Entwicklung zu beobachten.

Dies lag zum einen an der besonders schnellen Durchsetzung des Marktkapitalismus und der damit verbundenen Herausbildung einer Lohnarbeiterschaft. Die tradierten Organisationsformen der nun zu Lohnarbeitern werdenden Handwerker konnten so auf die neue Lage übertragen werden, sodass es bereits sehr früh zu politischen und gewerkschaftlichen Zusammenschlüssen der Industriearbeiter kam. Zum anderen war die Gründung der deutschen Sozialdemokratie auch eine Reaktion auf das politische Zusammengehen der Liberalen mit dem Konservativen Bismarck bei der Reichsgründung. Quelle: „Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert“ von Ulrich Herbert

Von Hans Klumbies