Die Risikogesellschaft geht in eine Sündenbock-Gesellschaft über

Wenn jemand durch Gefährdungen betroffen ist, muss das laut Ulrich Beck nicht in eine Bewusstwerdung der Gefahr einmünden, sondern kann sogar das Gegenteil bewirken, nämlich die Risiken aus Angst zu leugnen. Für Gefahren ist charakteristisch, dass gerade Betroffenheit Nichtbewusstsein bedingen kann. Ulrich Beck schreibt: „Mit dem Ausmaß der Gefahr wächst die Wahrscheinlichkeit ihrer Leugnung, Verharmlosung. Dafür gibt es immer Gründe. Risiken entstehen ja im Wissen und können damit im Wissen verkleinert, vergrößert oder einfach von der Bildfläche des Bewusstseins verdrängt werden.“ Der Prozess der Bewusstwerdung von Gefahren ist also immer auch umkehrbar. Ulrich Beck war bis 2009 Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Seither ist er Gastprofessor für Soziologie an der London School of Economics and Political Science.

Die Menschen in der Risikogesellschaft müssen mit unvorstellbaren Gefahren leben

Unruhe und Beruhigung in Gefahrensituationen können laut Ulrich Beck dieselbe Ursache haben, nämlich die Unvorstellbarkeit einer Gefahr, mit der die Menschen doch leben müssen. Anders als bei Hunger und Not sind bei Risiken auch Umleitungen durch Interpretation der geschürten Verunsicherungen und Ängste leichter möglich. Ulrich Beck schreibt: „Was hier bedingt ist, muss nicht auch hier bewältigt, sondern kann hierhin oder auch dorthin abgelenkt werden und symbolische Orte, Objekte und Personen seiner Angstbewältigung suchen und finden.“

Im Bewusstsein des Risikos sind also versetztes Denken und Handeln, versetzte soziale Konflikte besonders leicht möglich und gefragt. Ulrich Beck vertritt die These, dass die Risikogesellschaft gerade mit dem Anwachsen der Gefahrenlagen bei gleichzeitiger politischer Tatenlosigkeit eine immanente Tendenz zur Sündenbock-Gesellschaft enthält. Ulrich Beck erläutert: „Plötzlich sind es nicht die Gefährdungen, sondern diejenigen, die sie aufzeigen, die die allgemeine Unruhe provozieren.“

Der Umgang mit Angst und Unsicherheit wird zu einer zivilisatorischen Schlüsselqualifikation

Für Ulrich Beck begünstigt gerade die Unfassbarkeit und Hilflosigkeit vor der wachsenden Bedrohung begünstigt radikale und fanatische Reaktionen sowie die Entstehung politischer Strömungen, die soziale Stereotype und die von ihnen betroffenen Gruppen zu greifbaren Blitzableitern für die dem direkten Handeln verschlossenen, unsichtbaren Gefahren degradieren. In der Risikogesellschaft ist vor allem die Fähigkeit gefragt, Risiken zu antizipieren, zu ertragen und mit ihnen biographisch und politisch umzugehen.

Die traditionellen und institutionellen Formen der Bewältigung der Angst und Unsicherheit in der Familie, durch das Klassenbewusstsein oder politische Parteien verlieren in der Risikogesellschaft an Bedeutung. Die Individuen sind immer mehr auf sich allein gestellt. Der Umgang mit Angst und Unsicherheit wird in einer Gesellschaft, die mit unkalkulierbaren Risiken konfrontiert ist, zu einer zivilisatorischen Schlüsselqualifikation und muss deshalb in den pädagogischen Institutionen unterrichtet werden.

Von Hans Klumbies