Die Überzeugungskraft des demokratischen Rechtsstaats erlahmt

In der arabischen Welt benötigt man in vielen Orten Waffen, um westliche Werte zu sichern. Vor der Gewalt Russlands fürchten sich die Europäer, die Wirtschaftsmacht China beeindruckt sie. Im Inneren lebt der Westen gut mit offenen Grenzen und hoher Mobilität, die Wirtschaft ist relativ stabil. Doch es ist nicht alles Gold was glänzt. Udo di Fabio erklärt: „Aber spätestens seit der Weltfinanzkrise zeigen sich deutliche Risse im Fundament. Wir beobachten die Gleichzeitigkeit einer Internationalisierung der Oberschichten und den als populistisch wahrgenommenen dumpfen Protest derjenigen, die sich als Globalisierungsverlierer definieren.“ Durch Einwanderung und die Vernetzung über die Grenzen hinaus werden Gesellschaften nicht nur multikultureller und vielfältiger, sondern zersplittern sich auch in den Alltagskulturen. Udo di Fabio lehrt öffentliches Recht an der Universität Bonn. Er war bis 2011 Richter des Bundesverfassungsgerichts.

Die Reformation war eine Revolution des Geistes

Gemeinsame Horizonte des Verständnisses wachsen für vernetzte Eliten, während sie gleichzeitig innerhalb der Demokratien schrumpfen. Udo di Fabio erläutert: „Die Überzeugungskraft der großen Institutionen wie des demokratischen Rechtsstaats oder der Sozialen Marktwirtschaft scheinen zu erlahmen.“ Gleichzeitig schwinden die Bindekräfte politischer Parteien und religiöser Milieus. Jedes Land für sich und der Westen als Kompass für die Welt ist daher auf große Erzählungen seiner Herkunft und die Sichtbarmachung seiner Leitideen angewiesen.

Die Erinnerung an das Jahr 1517 ist eine große Chance für Deutschland, um die große Idee der westlichen Neuzeit besser zu verstehen. Die Reformation war eine Revolution des Geistes. Udo di Fabio fügt hinzu: „Sie ist eine der Geburtsstunden der Neuzeit – nach dem Renaissancehumanismus und vor dem Rationalismus und der Aufklärung.“ Allerdings war die Geburt der Neuzeit schmerzhaft. Die gewalttätige und geldwirtschaftlich vorangetriebene Dynamik der Welt und die zerfallende Ordnung des Glaubens haben vor 500 Jahren viele Menschen orientierungslos und suchend gemacht.

Das Verfassungsrecht der Neuzeit verdankt viel dem Zeitalter der Reformation

Mit der Renaissance wurde eine großartige, helle Idee machtvoll. Udo di Fabio ergänzt: „Sie stellte den Menschen als gottesebenbildlich mit seiner Würde und seiner Begabung zur verantwortlichen Selbstüberschreitung in den Mittelpunkt aller denkbaren Ordnungen.“ Als Martin Luther die Reformation einleitete, war die mittelalterliche Welt der europäischen Christenheit im Dualismus von Kaiser und Papst längst in ihren Grundfesten erschüttert. Wer heute nicht durch antireligiöse Affekte erblindet ist, vermag zu erkennen, wie viel das Verfassungsrecht der Neuzeit dem Zeitalter der Reformation verdankt.

Das Beharren auf Glaubensgewissheit und Gewissensfreiheit ist für Udo di Fabio ein zentraler Ausgangspunkt der großen Idee personaler Freiheit und Rechtsgleichheit. Dazu zählen die Vorstellungen angeborener Menschenrechte, die Würde des Menschen, die freie Entfaltung der Persönlichkeit sowie die Gleichheit vor dem Gesetz. Das alles stammt aus dem großen Schatz der Geistesgeschichte, der von der antiken griechischen Philosophie über die Evangelien bis zu Thomas von Aquin und der Theologie des Spätmittelalters reicht. Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung

Von Hans Klumbies