Timothy Garton Ash analysiert die prekäre Situation in Europa

Europa steckt in Nöten und Entscheidungszwangslagen. Auf die Frage, ob Europa zu groß geworden ist oder zu zerfallen droht, antwortet der Historiker Timothy Garton Ash wie folgt: „Europa ist nicht zu groß, sondern zu klein. Die Europäische Union ist nicht an die Grenzen Europas gelangt.“ Aber eine ganz andere Frage ist seiner Meinung nach, ob die Eurozone nicht zu früh zu groß geworden ist. Timothy Garton Ash kritisiert an der momentanen Situation in Europa die zu große Staatsverschuldung vieler Staaten, die fehlende Kontrolle der staatlichen Haushalte sowie die nicht vorhandene Konkurrenzfähigkeit der südlichen Länder wie Griechenland oder Portugal. Timothy Garton Ash ist Historiker in Oxford und der große Europäer unter den britischen Historikern. Zu seinen bekanntesten Büchern zählt „Im Namen Europas“, in dem er sich mit der Geschichte Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg auseinandersetzt.

Deutschland und England hängen dem Wirtschaftsliberalismus an

Viele Politiker glauben, dass der deutsch-französische Gegensatz stärker wirkt als der britisch-französische. Laut Timothy Garton Ash ist geschichtlich gesehen der Zwiespalt zwischen Frankreich und England wesentlich größer als zwischen Deutschland und England. Timothy Garton Ash behauptet: „Es gibt viele Affinitäten zwischen Deutschen und Engländern, die Neigung zum Wirtschaftsliberalismus. Das Problem ist, die Deutschen verstehen sich sehr gut mit Engländern, wenn es um die Wirtschaft geht, nicht aber in europäischen Dingen.“

Als Beispiel für eine wirtschaftskulturelle Prägung in Europa nennt Timothy Garton Ash das Land Polen, das in seinen Augen eine liberale politische Richtung eingeschlagen hat. Da dies neu ist, zählt der britische Historiker Polen zu den nordeuropäischen Ländern. Wenn man über Frankreich nachdenkt, herrscht immer noch das Gefühl vor, dass sich dieser Staat nur schwer von seinen etatistischen Traditionen verabschieden kann. Das sieht Timothy Garton Ash genauso: „Hier spielt die Nachkriegsgeschichte eine Rolle, die Defensive eines Landes, dass viel von seiner Rolle in der Welt eingebüßt hat.

Die Europäische Union muss sich zu einer Fiskalgemeinschaft entwickeln

Timothy Garton Ash bedauert es zutiefst, dass Großbritannien im Moment so eine negative Haltung gegenüber Europa einnimmt. Dennoch glaubt er, dass wenn es um die Eurozone geht, das Schlüsselland Frankreich ist. Er fügt hinzu: „Und da ist da institutionell Entscheidende: die Kontrolle über die Haushalte.“ Denn wenn man in Europa eine gemeinsame Währung besitzt, muss man entweder eine gemeinsame Politik vorantreiben, oder große Ungleichheiten zwischen den Ländern der Europäischen Union ertragen.

Timothy Garton Ash kritisiert, dass man sich vor 25 Jahren im Zusammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung auf eine Währungsunion ohne Fiskalunion oder politische Union geeinigt hat. Der britische Historiker ergänzt: „Jetzt versucht man diesen Geburtsfehler durch nachträgliche chirurgische Eingriffe an einem Dreizehnjährigen wieder gutzumachen – während der Patient läuft und spricht. Das ist nicht leicht.“ Auch der Konflikt zwischen Deutschland und Frankreich schwelt weiter: „Die Deutschen denken sich Europa wie eine erweiterte Bundesrepublik, so wie die Franzosen Europa als erweiterte République Française sehen.“

Von Hans Klumbies