Eine antieuropäische Welle droht Europa zu zerreißen

Europa ist ein Paradies für Propheten des Niedergangs. Heute streitet in Europa eine Generation von orientierungslos, kurzatmig zu zänkisch gewordenen Politikern ums Geld, verheddert sich im Dickicht des europäischen Institutionengeflechts und ist in den komplexen Prozessen der „Brüsseler Blase“ eingeschlossen. Thomas Seifert fügt hinzu: „Dieser „Brüsseler Blase“ ist der real existierenden europäischen Außenwelt entfremdet – eine abgeschottete Parallelwelt der Kommissare und Beamten, der Europaparlamentarier und Lobbyisten.“ Nun schwappt eine antieuropäische Welle über den Kontinent und droht ihn zu zerreißen. Der britische Premier David Cameron will 2017 ein Referendum über den Verbleib des Landes in der Europäischen Union (EU) abhalten, die Achse Paris-Berlin scheint zerbrochen und Deutschlands Liebe zu Europa erkaltet. Thomas Seifert ist stellvertretender Chefredakteur und Leiter der Außenpolitik bei der Wiener Zeitung.

Die Politiker in Europa haben keine Vision

Martin Schulz (SPD), Präsident des Europäischen Parlaments, schrieb 2013: „Als die EU den Friedensnobelpreis für das Jahr 2012 zugesprochen wurde, ging mir sofort durch den Kopf, dass es für einen Preisträger wie die EU unwürdig ist, dass so viele Menschen auf ihrem Territorium in solcher Armut leben müssen. Was ich in Südeuropa sah, hat mich zornig gemacht und auch traurig. Die Sparmaßnahmen, von denen viele ohne Zweifel notwendig waren, trafen wie so oft die Schwächsten in der Gesellschaft.“

Die Europäische Union wirkte in den vergangenen Krisenjahren recht hilflos. Für Thomas Seifert ist das kein Wunder: Die EU hat ein Parlament, das wenig mitzureden hat, eine EU-Kommission, die dem Parlament keine Rechenschaft ablegen muss und nicht demokratisch legitimiert ist, und einen Rat, dem zwar die 28 Staats- und Regierungschefs der EU-Mitglieder angehören, in dem aber letztlich passiert, was Deutschland und Frankreich untereinander ausmauscheln. Kaum ein EU-Bürger hat das Gefühl, dass die Politiker des Kontinents zielgerichtet agieren oder einer Vision folgen.

Die Politik sollte über den Interessen der Wirtschaft stehen

Der britische Historiker und Schriftsteller Timothy Ash stellt fest: „Dabei dürsten die Europäer nach Richtung, Ziel und Hoffnung. Das himmelschreiende Bedürfnis nach Poesie der Bürger bleibt unbefriedigt.“ Der ehemalige Bundeskanzler Willy Brandt hat es seiner Meinung nach verstanden, seine neue Ostpolitik in inspirierende Rhetorik zu kleiden, als er bei seiner Regierungserklärung am 28. Oktober 1969 sagte: „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein und werden – im Inneren und nach außen.“ Heutige deutsche Politiker verlieren sich dagegen in einer sterilen Lego-Sprache.

Dabei leuchtet es den meisten Bürgern ein, dass nur geeint auftretende EU-Mitglieder den Primat der Politik gegenüber Großbanken, Megakonzernen und übermächtigen ökonomischen Playern wiederherstellen können. Thomas Seifert betont: „Die Antwort auf die Wurzel des Demokratie-Problems in der EU ist daher mehr Europa, nicht weniger: eine Stärkung der EU-Gemeinschaftsinstitutionen, des Europäischen Parlaments, der Kommission und des Rates.“ Der deutsche Philosoph Jürgen Habermas ist der gleichen Meinung: „Tatsächlich kann der fehlende nationale Handlungsspielraum nur auf supranationaler Ebene wettgemacht werden.“ Quelle: „Die pazifische Epoche“ von Thomas Seifert

Von Hans Klumbies