Eigenes Denken erschwert die Anpassung an eine genormte Welt

Die Position derer, die im 18. Jahrhundert für den Glauben an die Offenbarung eintraten, war laut Theodor W. Adorno grundverschieden von der jener, die heute das gleiche tun. Wie seiner Meinung nach überhaupt identische Ideen, je nach dem geschichtlichen Augenblick, höchst unterschiedliche Bedeutungen annehmen können. Theodor W. Adorno schreibt: „Damals ging es um die Verteidigung eines traditionell vorgegebenen und mehr oder minder durch die gesellschaftliche Autorität gestützten Lehrbegriffs gegen den Angriff der autonomen ratio, die nichts zu akzeptieren willens ist, als was ihrer eigenen Prüfung standhält.“ Theodor W. Adorno, geboren am 11. September 1903 in Frankfurt am Main, gestorben am 6. August 1969, lehrte in Frankfurt als ordentlicher Professor für Philosophie und Direktor des Instituts für Sozialforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität.

Im Glauben befriedig der Mensch sein Bedürfnis nach Orientierung

Diese Verteidigung gegen die Vernunft musste mit rationalen Mitteln angegangen werden und war insofern, wie es Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seiner Phänomenologie darlegte, von Anbeginn zum Scheitern verurteilt. Durch das Mittel der Argumentation, deren sie sich bediente, übernahm sie vorweg selbst das ihr feindliche Prinzip. Theodor W. Adorno ergänzt: „Heute geschieht die Wendung zum Offenbarungsglauben aus Verzweiflung an eben jenen Mitteln, an der ratio.“ Ihre Unwiderstehlichkeit wird nur noch als negativ empfunden.

Nicht die Wahrheit und Authentizität der Offenbarung ist laut Theodor W. Adorno für den Glauben an die Offenbarung entscheidend, sondern das Bedürfnis der Menschen nach Orientierung und die Sehnsucht nach dem Rückhalt am fest Vorgegebenen. Dazu kommt die Hoffnung, man könnte durch den Glauben der entzauberten Welt jenen Sinn einhauchen, unter dessen Abwesenheit der Mensch solange leidet, wie er als bloßer Zuschauer auf die Sinnlosigkeit des Lebens blickt.

Die ökonomischen Mächte degradieren die Einzelnen zum Funktionär des Getriebes

Weil zuviel Denken, unbeirrbare Autonomie die Anpassung des Denkers in der verwalteten Welt erschwert und Leiden erzeugt, projizieren Ungezählte ihr von der Gesellschaft diktiertes Leiden auf die Vernunft als solche. Theodor W. Adorno ist fest davon überzeugt, dass in einem solchen Fall die Dialektik der Aufklärung, die in der Tat den Preis des Fortschritts, all das Verderben mitbenennen muss, das Rationalität als fortschreitende Naturbeherrschung bereitet, zu früh abgebrochen wird. Und dies nach dem Modell eines Zustands, dessen blinde Geschlossenheit den Ausweg zu versperren scheint.

Theodor W. Adorno vertritt die These, dass die Zusammenballung der ökonomischen und damit der politischen und administrativen Mächte den Einzelnen in weitem Maß zum bloßen Funktionär des Getriebes herabsetzen. Die Individuen sind dadurch seiner Meinung nach weit mehr gebunden als in der Ära des Hochliberalismus, in der die Menschen nach Bindungen noch nicht verlangten. Theodor W. Adorno fügt hinzu: „Ihr Bedürfnis nach Bindungen ist daher zunehmend eines nach geistiger Verdopplung und Rechtfertigung ohnehin schon vorhandener Autorität.“

Von Hans Klumbies