Kulturen müssen von außen befruchtet werden

In der Tat wäre es absurd zu verlangen oder lediglich zu behaupten, dass Kulturen ihren Wandel stets aus sich selbst heraus vollbringen müssten. Thea Dorn schreibt: „Auch für Kulturen gilt: Inzest ist der sicherste Weg in die Degeneration. Befruchtung von außen muss sein.“ Aber sämtliche Wandlungen der deutschen Kultur, selbst diejenigen, die durch Fremdherrschaft wie der Römer oder Besatzung wie durch die Franzosen oder Amerikaner bewirkt wurden, konnten sich nur vollziehen, weil sie in Deutschland irgendwann auf fruchtbaren Boden gefallen sind. Selbst im Falle der „Reeducation“, die von vielen Deutschen nach 1945 zunächst als beleidigende Schmach empfunden wurde – und von heutigen Rechtsauslegern noch immer als solche empfunden wirde, gilt Gleiches. Thea Dorn studierte Philosophie und Theaterwissenschaften. Sie schrieb eine Reihe preisgekrönter Romane, Theaterstücke und Essays.

Kulturen lassen sich sinnvoll identifizieren

Hätte die deutsche Gesellschaft in ihrer großen Mehrheit nicht irgendwann selbst eingesehen, dass sie sich tödlich verrannt hatte und sich deshalb ernstlich neu besinnen musste, hätte die Mehrheit der Deutschen keinen Gefallen an Jazz und Rock und Mickey Mouse gefunden, wären all die amerikanischen Umerziehungsversuche für die Katz gewesen. Oder hätten, schlimmer noch, dazu geführt, dass die Deutschen eines Tages versucht hätten, ihre Befreier in einem blutigen Befreiungskrieg abzuschütteln, anstatt sie ein halbes Jahrhundert später mit friedlichen Volksfesten – und zum Teil sogar mit Wehmut – zu verabschieden.

Nichts liegt Thea Dorn ferner, als die unterschiedlichen Kulturen durch Mauern voneinander trennen zu wollen. Ihr liegt nur daran zu zeigen, dass sie sich, obwohl man sie nicht streng eingrenzen kann, sinnvoll identifizieren lassen. Dass sie trotz ihrer Durchlässigkeit, trotz ihrer Plastizität nicht beliebig sind.“ Thea Dorn beweist in ihrem Buch „deutsch, nicht dumpf“, dass es gute Gründe gibt, von einer „spezifisch deutschen Kultur“ zu sprechen. Sie sieht aber auch, dass die trennenden Kräfte, die von Kulturen ausgehen, mindestens so groß sind wie die verbindenden.

Der Begriff Kultur selbst ist unklar

Die zentrale Crux der Debatte um eine Leitkultur liegt darin, dass keiner genau weiß, was er mit dem Wort „Kultur“ eigentlich meint. Thea Dorn erläutert: „Und zwar geht es mit hier nicht wieder um die vermeintliche Unklarheit was eine spezifisch „deutsche Kultur“ sein soll. Sondern es geht um die Unklarheit, was der Begriff „Kultur“ selbst in sich trägt.“ Der britische Literaturtheoretiker Terry Eagleton schlägt den präzisierenden Begriff „Kultur-als-Lebensweise“ vor. Dieser Kulturbegriff ist für Thea Dorn ebenso umfassend wie unordentlich.

Denn er umfasst Kunstwerke wie Freizeitbeschäftigungen, Ikonen des Geistes wie solche des Alltags, wohlbegründete Prinzipien wie bloße Schrullen, religiösen Gedankengebäude wie volkstümliches Brauchtum, kurz: Das Hehrste geht Hand in Hand mit dem Profansten. Für dieses Verständnis von Kultur gilt, was Johann Gottfried Herder vor über zweihundert Jahren von der Nation gesagt hat: Sie ist ein „Sammelplatz von Torheiten und Fehlern sowie von Vortrefflichkeiten und Tugenden“. Oder, schöner noch: Sie ist „ein großer, ungejäteter Garten voll Kraut und Unkraut“. Quelle: „deutsch, nicht dumpf“ von Thea Dorn

Von Hans Klumbies