Thomas Mann unterscheidet strikt zwischen Kultur und Zivilisation

Es gibt den tief in der deutschen Geistesgeschichte verwurzelte Sonderauffassung, dass zwischen „Kultur“ und „Zivilisation“ ein unüberbrückbarer Gegensatz besteht. Denn nur wenn man sich mit diesem deutschen Sonderweg befasst, kann man begreifen, was Thomas Mann meinte, als er 1945 davon sprach, dass es nicht „zwei Deutschland“ gebe, „ein böses und ein gutes, sondern nur eines, dem sein Bestes durch Teufelslist zum Bösen ausschlug“. Thea Dorn weiß: „Thomas Mann selbst war bis in sein fünftes Lebensjahrzehnt hinein ein Anhänger dieser Auffassung.“ In seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“, geschrieben zwischen 1915 und 1918, schließt er sich dem damals vorherrschenden konservativen deutschen Zeitgeist an, indem er den Ersten Weltkrieg als „Krieg der Zivilisation gegen Deutschland“ deutet und deshalb ohne Einschränkung unterstützt, dass Deutschland seinerseits mit aller Kraft zuschlägt. Thea Dorn studierte Philosophie und Theaterwissenschaften. Sie schrieb eine Reihe preisgekrönter Romane, Theaterstücke und Essays.

Zivilisation bedeutet Vernunft und Aufklärung

Denn sollte das „Imperium der Zivilisation“ siegen – gemeint waren hier in erster Linie die Kriegsgegner Frankreich und England –, so bliebe laut Thomas Mann „vom deutschen Wesen nichts übrig“. Einige Seiten zuvor erklärt er, was er unter diesem „deutschen Wesen“ versteht: „Deutschtum, das ist Kultur, Seele, Freiheit, Kunst und nicht Zivilisation, Gesellschaft, Stimmrecht, Literatur.“ Noch prägnanter stellte Thomas Mann den Gegensatz zwischen Zivilisation und Kultur in seinen bereits 1914 veröffentlichten „Gedanken im Kriege“ dar.

Dort heißt es: „Kultur ist Geschlossenheit, Stil, Form, Haltung, Geschmack, ist irgendeine gewisse geistige Organisation der Welt, und sei das alles noch so abenteuerlich, skurril, wild, blutig und furchtbar. Kultur kann Orakel, Magie, Päderastie, Vitzliputzli, Menschenopfer, orgiastische Kultformen, Inquisition, Autodafés, Veitstanz, Hexenprozesse, Blüte des Giftmordes und die buntesten Gräuel umfassen. Zivilisation aber ist Vernunft, Aufklärung, Sänftigung, Sittigung, Skeptizismus, Auflösung; – Geist.“

Martin Luther grenzt die deutsche Art des Fühlens und Denkens vom restlichen Abendland ab

Das Motiv, eine spezifisch deutsche Art des Fühlens, Glaubens, Denkens, Handelns gegen die im restlichen Abendland vorherrschenden Gemüts- und Verhaltensweise abzugrenzen, taucht zum ersten Mal bei Martin Luther auf. So etwa, wenn er in seiner theologischen Kampfschrift „Vom unfreien Willen“ seinem Widersacher, dem humanistischen Gelehrten Erasmus von Rotterdam, höhnisch zugesteht, dass dieser ihm „an Kräften der Beredsamkeit und an Geist […] bei weitem überlegen“ sei, was nicht verwundere, schließlich habe er, Luther, „als Barbar in der Barbarei gelebt“.

Sein vergiftetes Kompliment beendet Martin Luther mit der Versicherung, dass er Erasmus von Rotterdam beinahe bemitleide, weil dieser seine „ungemein schöne und geistreiche Ausdrucksweise“ an solch „höchst unwürdigen Stoff“ vergeude – gemeint ist Erasmus` Verteidigung, dass der Mensch einen freien Willen habe –, „gleich als würde man Kehricht oder Dreck in goldenen und silbernen Gefäßen auftragen“. Hier haben wir ihn zum ersten Mal: den Gedanken, dass es dem Deutschen, dem „Barbaren“, zwar an manierlicher Form mangeln mag, doch dass hinter der formlosen Brust ein umso ehrlicheres, reineres, heißeres Herz schlägt. Quelle: „deutsch, nicht dumpf“ von Thea Dorn

Von Hans Klumbies