Als Lebensweise ist Kultur nur eine Frage der Gewohnheit

„Kultur“ ist ein außergewöhnlich komplexes Wort, das vier Hauptbedeutungen beinhaltet: Erstens den Bestand an künstlerischen und geistigen Werken. Zweitens den Prozess geistiger und intellektueller Entwicklung. Drittens die Werte, Sitten, Überzeugungen und symbolische Praktiken, nach denen die Menschen leben. Und viertens eine komplette Lebensweise. Die Kultur eines Volkes kann also Dichtung, Musik und Tanz bezeichnen, aber auch die Lebensmittel, die es isst, die Sportarten, die es betreibt, die Religion, die es praktiziert. Sie kann sogar die Gesellschaft als Ganzes meinen, samt Verkehrsnetz, Wahl- und Müllbeseitigungssystem. Das mag alles typisch für diese Kultur sein, wird aber nicht immer zu ihren Besonderheiten gehören. Terry Eagleton ergänzt: „Kultur in der künstlerischen und intellektuellen Bedeutung des Wortes kann durchaus Innovation miteinbeziehen, während Kultur als Lebensweise im Allgmeinen nur eine Frage der Gewohnheit ist.“ Der Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker Terry Eagleton ist Professor für Englische Literatur an der University of Manchester und Fellow der British Academy.

Kultur kann man nicht mit einem Mal erwerben

Da künstlerische Kultur häufig eine Angelegenheit von Minderheiten ist – vor allem bei Werken, die nur schwer zugänglich sind –, unterscheidet sie sich in dieser Hinsicht von Kultur als Entwicklungsprozess, die man durchaus als egalitäreres Phänomen ansehen kann. Wenn diejenigen, die jetzt unkultiviert sind, im Laufe der Zeit die Möglichkeit haben, kultiviert zu werden, könnte es sein, dass jeder kulturelles Kapital anhäufen kann, wenn er es nur will. Man kann sich sehr wohl über Jahre um sein geistiges Wachstum kümmern. Kultur ist nicht etwas, das man mit einem Mal erwerben kann.

Der britische Kulturtheoretiker Raymond Williams meint, „die Schwierigkeit des Kulturbegriffs liegt darin, dass wir ständig gezwungen werden, ihn zu erweitern, bis er beinahe mit unserem Alltagsleben identisch ist.“ Ursprünglich bedeuten „Kultur“ und „Zivilisation“ weitgehend dasselbe; doch in der Neuzeit hat man nicht nur zwischen ihnen unterschieden, sondern sie sogar als Gegensätze gesehen. Terry Eagleton schreibt: „In den Annalen der neueren Geschichte werden die Deutschen im Allgemeinen als Repräsentanten der Kultur betrachtet, während die Franzosen den ersten Preis als Fackelträger der Zivilisation bekamen.“

Neben der Zivilisation ist die Barbarei die Antithese zur Kultur

Allgemein geläufig wurde das Wort „Kultur“ erst im 19. Jahrhundert. Je seelenloser und verarmter die alltägliche Erfahrung erscheint, desto eifriger wird das Ideal der Kultur als Kontrast propagiert. Je gröber die materialistische Zivilisation wird, desto erhabener und jenseitiger erscheint die Kultur. Die gutbürgerlichen Kreise in Berlin und Wien begannen von der vollkommenen organischen Gesellschaft im antiken Griechenland zu träumen. Kultur und Zivilisation schienen sich jetzt unversöhnlich gegenüberzustehen. Erstere ein romantischer Begriff, während Letztere zur Sprache der Aufklärung gehört.

Doch die Zivilisation ist nicht die einzige Antithese zu Kultur. Es gibt auch eine Polarität zwischen Kultur und Barbarei. Tatsächlich laufen diese beiden Gegensätze für einige Denker auf das Gleiche hinaus. Ist also vieles, was als zivilisierte Lebensweise betrachtet wird, im Grunde Barbarei? Zweifellos gibt es Wissenschaftler und Philosophen, die diese Ansicht vertreten. Wenn die Kunst zusammen mit moralischen Werten und geistigen Wahrheiten für das Beste im menschlichen Leben steht, dann ist nach dieser Auffassung vieles, was die Existenz eines Individuums ausmacht, nicht wirklich menschlich. Quelle: „Kultur“ von Terry Eagleton

Von Hans Klumbies