Mahatma Gandhi kämpft gegen Ungerechtigkeit

Mohandas Karamchand Gandhi (1869 – 1948) kam als Sohn hinduistischer Eltern im westlichen Indien zur Welt. Später bekam er den Ehrentitel „Mahatma“. Klaus-Peter Hufer fügt hinzu: „Er studierte in London Jura, wurde Anwalt und arbeitete zunächst in Südafrika.“ Dort setzte er sich gegen die Rassendiskriminierung und für die Rechte der indischen Einwanderer ein. Dort entwickelt er das „Satyagraha“ („Macht der Wahrheit“), womit er den passiven Widerstand und den zivilen Ungehorsam gegen Ungerechtigkeit begründete. „Satya“ bedeutet Wahrheit und Liebe. Beides sind Attribute der Seele. „Agraha“ ist Stärke oder Kraft. „Satyagraha“ ist also Stärke, die aus Wahrheit, Liebe und Gewaltlosigkeit geboren ist. Klaus-Peter Hufer promovierte 1984 in Politikwissenschaften, 2001 folgte die Habilitation in Erziehungswissenschaften. Danach lehrte er als außerplanmäßiger Professor an der Uni Duisburg-Essen.

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Tatbestand kann unterschiedliche Bedeutungen haben

Das Wort „Tatbestand“ erscheint den meisten Nichtjuristen als Inbegriff eines juristischen Begriffs. Es wird nicht selten mit der angeblichen Lebensfremdheit und Umständlichkeit, gern auch mit Spitzfindigkeit von Juristen assoziiert und in eins gesetzt. Thomas Fischer stellt fest: „Der Tatbestand ist der Schrecken all derer, die sich vom Strafrecht vor allem und sofort Gerechtigkeit im ganz persönlichen Fall und für ihr Anliegen erwarten.“ Aber wie meistens ist es so einfach nicht. Denn der Tatbestand als Rettung vor der puren Willkür ist so tief im Bewusstsein der deutschen Kultur verankert, dass selbst die dezidiert pure Willkür ihn noch als Legitimationsfigur missbrauchen muss. „Tatbestand“ kann, sogar in der Rechtssprache, unterschiedliche Bedeutungen haben. Thomas Fischer war bis 2017 Vorsitzender des Zweiten Senats des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe.

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Regelverstöße gehören zum Sozialleben dazu

Normen haben zwangsläufig etwas Starres, Unverbindliches, Fixiertes, etwas Stures. Sie sind damit stets auch etwas Überforderndes und Illusionäres. Richard David Precht erläutert: „Sozialverhalten und Moral aber leben von Grauzonen, von Verhalten, das man nicht so genau kennt. Es lässt sich nicht normieren wie die Größe von Nägeln oder Schrauben.“ Wo wirkliche Menschen leben, gehört der Regelverstoß zum Sozialleben dazu. Schon was überhaupt ein Regelverstoß ist, ist hochgradig kulturell bedingt. Wer in Beirut über eine rote Ampel fährt, wird von der Polizei dafür nicht belangt. In Bayreuth dagegen ist das Risiko höher. Der Grund dafür ist klar. Würde sich die Polizei in Beirut um Verstöße bei Fußgängern kümmern, käme sie zu nichts anderem mehr. Der Philosoph, Publizist und Autor Richard David Precht zählt zu den profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.

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Die Wahrheit kann dem Frieden dienen

Für Friedrich Nietzsche ist der Intellekt vor allem „ein Mittel zur Erhaltung des Individuums“. Dieser ermöglicht es dem „Mängelwesen“ Mensch im Daseinskampf zu bestehen. Er spricht davon, dass der Intellekt „gerade nur als Hilfsmittel den unglücklichsten, delikatesten, vergänglichsten Wesen beigegeben ist, um sie eine Minute im Dasein festzuhalten.“ Axel Braig stellt fest: „Damit vertritt Nietzsche die Ansicht, dass der Mensch die Neigung hat, bestimmte Annahmen vor allem dann als wahr zu erachten, wenn sie im Überlebenskampf nützlich erscheinen.“ An anderer Stelle spricht Friedrich Nietzsche davon, dass die Vorstellung von Wahrheit dazu dienen kann, den Menschen im Krieg aller gegen alle einen Friedensschluss zu ermöglichen. Axel Braig wandte sich nach Jahren als Orchestermusiker und Allgemeinarzt erst spät noch einem Philosophiestudium zu.

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In Deutschland herrscht das Verbot der Folter

Polizei, Staatsanwaltschaft, Gericht und selbst schlichteste Zuschauer und Leser wissen, dass man die Wahrheit verhüllen kann. Entweder wenn Zeugen lügen oder Spuren verloren gegangen sind. In diesem Fall spaltet sich die Wirklichkeit auf in eine spannungsgeladene Beziehung. Es gibt dann eine lebensweltliche Wahrheit und eine fiktiv erzeugte Wahrheit. Eine „Gerechtigkeitsagentur“ bemüht sich dann, beides in Übereinstimmung zu bringen. Thomas Fischer erklärt: „Tatsachen können nicht unabhängig vom Erkenntnisprozess selbst und vom Erkennungsinteresse gedacht werden.“ Wenn man zum Beispiel das Folterverbot als Beispiel für eine Verfahrensregel nimmt, ergeben sich schwierige Fragen. Strafrechts-historisch war die Folter („peinliche Befragung“) ein Anliegen der Rationalität. Sie wandte sich von ersichtlich unzuverlässigen Beweismethoden ab und eine Ermittlung der Wahrheit durch Geständnis zu. Thomas Fischer war bis 2017 Vorsitzender des Zweiten Senats des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe.

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Es gibt nicht die eine Wahrheit

In den letzten zwei Jahren der Coronakrise sind viel Unwörter wie etwa Inzidenz, R-Wert oder 2G in den Lebensalltag gelangt. Sie prägen und regulieren seither das Zeitgeschehen. Ulrike Guérot erklärt: „Seit Neuestem bestimmen zwei Maximen das demokratische Miteinander, die in Demokratien eher unüblich sind: von der Wahrheit und der Pflicht.“ Der demokratische Staat geht – im Gegensatz zu totalitären Regimen oder Gottesstaaten – nicht davon aus, dass es eine Wahrheit gibt.“ Im Gegenteil: Er garantiert Glaubensfreiheit und verhandelt unterschiedliche Meinungen zu einem Thema in einem Diskurs. Die Pflicht ist in einer Demokratie in erster Linie die Einhaltung des Rechts. Das geltende Recht, vor allem die Grundrechte der Bürger, wurden wegen Corona für lange Zeiträume stark eingeschränkt. Seit Herbst 2021 ist Ulrike Guérot Professorin für Europapolitik der Rheinischen-Friedrichs-Wilhelms Universität Bonn.

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Literatur muss den Leser berühren

Ferdinand von Schirach hat Jura studiert, weil er glaubte, ein bürgerliches Leben könnte ihm Halt geben. Er hat immer gewartet, ohne zu wissen, worauf. Erst als er wieder schreiben konnte, verstand er, dass es genau das war: das Schreiben. Das ist die ganze Geschichte. Das Schreiben ist seiner Meinung nach nicht aufregend oder romantisch: „Ich sitze vor dem Laptop, rauche, trinke Kaffee und schreibe. Drei Stunden am Vormittag. Man sollte sich vorher duschen, rasieren und ordentlich anziehen, sonst schreibt man Bademantelliteratur.“ Für Ferdinand von Schirach ist es schwieriger über sich selbst als über Erfundenes zu schreiben. Die Wahrheit kann ohnehin niemand erzählen. Ferdinand von Schirach verteidigte etwa 700 Mandanten vor Gericht, bevor er zu einem der international erfolgreichsten Romanautoren und Dramatiker Deutschland avancierte.

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Die Aufklärung suchte nach Gewissheiten

Die europäische Aufklärung ist ganz durchtränkt vom Geiste der Kritik. Vor allem die aufklärerische Bibelkritik hat das kritische Denken damals sogar in die Religion getragen. Denn sie arbeitete die historischen und subjektiven Bedingungen der Entstehung von Bibeltexten heraus. Dadurch wurde der Anspruch einer direkten Gottesbotschaft durch diese Forschungen zur Historizität der Bibel stark relativiert. Silvio Vietta erläutert: „Die Aufklärung verfolgte dann auf der Grundlage der Erkenntnisse neuzeitlicher Naturwissenschaften über den Kosmos und auch Menschen das Ziel, endlich klar zwischen falschen und richtigen Urteilen über die Welt zu unterscheidenden. Sie suchte in Bezug auf die Wahrheit nach „Gewissheit“. Der Vorreiter dieser Denkbewegung war René Descartes. Prof. em. Dr. Silvio Vietta hat an der Universität Hildesheim deutsche und europäische Literatur- und Kulturgeschichte gelehrt.

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Es gibt keine ewigen unveränderlichen Werte

Das Ringen um gemeinsame Werte und verbindliche Regelungen ist in sozialen und politischen Gemeinschaften oftmals sehr schwierig. Dennoch bleibt dieser mühsame Prozess unvermeidbar. Auch die Berufung auf die Vernunft oder auf unveränderliche ewige Werte kann diese Auseinandersetzung nicht überflüssig machen. Denn es gab ja zu keinem historischen Zeitpunkt einen weltweiten Konsens über die angeblich ewigen Werte. Axel Braig ergänzt: „Zudem erscheint die von Immanuel Kant beschworene Vernunft als so lebensfern und abstrakt.“ Deshalb hat Friedrich Nietzsche ihr seine „große Vernunft des Leibes“ entgegengestellt. Es erscheint nicht ratsam, sich allein auf diese leibliche Vernunft zu verlassen. Dennoch lässt es sich nicht leugnen, dass sinnliche Erfahrungen und konkrete Ereignisse bei vielen Menschen starke Gefühle auslösen. Axel Braig wandte sich nach Jahren als Orchestermusiker und Allgemeinarzt erst spät noch einem Philosophiestudium zu.

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Søren Kierkegaard ringt mit der Religion

Søren Kierkegaard schuf auf den ersten Blick ein Oeuvre, das auf den ersten Blick eher literarisch als philosophisch anmutet. Er wurde in einer protestantisch-pietistischen Familie in Kopenhagen geboren. Dort verbrachte er bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1855 sein ganzes Leben. Ger Groot stellt fest: „Søren Kierkegaard hat sein Leben lang gegen die Staatskirche seiner Zeit polemisiert. Ebenso wie Friedrich Nietzsche focht er einen Kampf mit der Religion aus. Aber anders als Nietzsche distanzierte er sich nicht von ihr.“ Er suchte vielmehr nach einer authentischen Religion, in der der menschlichen Sehnsucht nach Erlösung der gebührende Ernst zukam. Ger Groot lehrt Kulturphilosophie und philosophische Anthropologie an der Erasmus-Universität Rotterdam. Zudem ist er Professor für Philosophie und Literatur an der Radboud Universität Nijmegen.

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Wirklichkeit und Wahrheit wird oft gleichgestellt

Die meisten Menschen unterscheiden im Alltag nicht zwischen „Wirklichkeit“ und „Wahrheit“. Sie halten beides für eine quasi natürliche Beschreibung desselben. Was „wirklich“ ist, erlebt der Mensch an und in sich selbst. Thomas Fischer erläutert: „Es ist vermittelt über biologische Rezeptoren und Verarbeitungsstrukturen des Gehirns und an dessen Möglichkeiten gebunden.“ Wahr ist, dass das menschliche Gehirn etwa 86 Milliarden Neuronen (Nervenzellen) hat. Was diese Wahrheit in der Wirklichkeit bedeutet, kann ein Mensch nicht erkennen. Er kann es auch nicht messen und nur zu einem sehr geringen Teil steuern. Dies ist die einzige Grundlage für die Erkenntnis von „Wahrheit“. Und selbstverständlich auch für die Reflexion darüber, was dieser Begriff bedeuten könnte. Menschen gehen in der Regel davon aus, dass jedenfalls Tiere keine „Wahrheits“-Erkenntnis haben. Thomas Fischer war bis 2017 Vorsitzender des Zweiten Senats des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe.

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Zarathustra ist nicht Friedrich Nietzsche

Die vom persischen Religionsstifter Zoroaster inspirierte Figur des Zarathustra erscheint nicht nur als Verkünder großer Wahrheiten und Prediger. Sondern er tritt auch als Philosoph in Erscheinung, der sich radikal einer skeptischen Selbstvergewisserung aussetzt. Konrad Paul Liessmann stellt fest: „So wenig Friedrich Nietzsches „Zarathustra“ ein philosophisches Werk im traditionellen Sinne ist, so wenig handelt es sich um eine poetische Fiktion.“ Der eher an der Sprache der Evangelisten denn an orientalische Vorbilder gemahnende Stil ist von einer außergewöhnlichen Geschmeidigkeit. Der Duktus oszilliert zwischen übersteigertem Pathos und nüchterner Selbstbefragung. Die Figur des Zarathustra darf man jedoch nicht mit Friedrich Nietzsche identifizieren. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Philosophie an der Universität Wien. Zudem arbeitet er als Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist. Im Zsolnay-Verlag gibt er die Reihe „Philosophicum Lech“ heraus.

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Menschen sehnen sich nach einer Ordnung der Welt

Viele Menschen haben das Bedürfnis, eine große Ordnung der Welt anzunehmen, die als Erklärung für alles dienen kann. Dadurch machen sie die häufig verwirrende Vielfalt, die auf sie einstürzt, erträglicher. Freilich, die Art und Weise und der Inhalt dieser Welterklärungen unterscheiden sich, je nach geschichtlicher Situation, Kultur oder Individuum. Axel Braig stellt fest: „In religiösen Zusammenhängen spielen die Götter oder zumindest ein Gott bei der Erklärung des gesamten Kosmos eine wesentliche Rolle.“ Vor gut zweieinhalbtausend Jahren vertraten schon einige vorsokratische Philosophen jedoch eine andere Meinung. Sie vertraten die These, dass der menschliche Intellekt auch ohne göttliche Hilfe zu einer umfassenden Welterklärung in der Lage sei. Axel Braig wandte sich nach Jahren als Orchestermusiker und Allgemeinarzt erst spät noch einem Philosophiestudium zu.

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John Rawls entwickelt eine Gerechtigkeitstheorie

Im Allgemeinen hat John Rawls versucht, dass sein Liberalismus vermeidet, den Bürgern eines liberalen Regierungssystems eine bestimmte Konzeption des Guten aufzudrängen. Seine Gerechtigkeitstheorie beruht durchaus auf dem Gedanken, dass Autonomie für sich genommen gut für die Menschen ist. Und dass diesen genug Raum für deren Ausübung gelassen werden sollte. Danielle Allen ergänzt: „Sie enthält auch einen knappen Ausblick auf das demokratischer Gleichheit innewohnende menschliche Gut.“ Jürgen Habermas vertritt die These, dass Demokratie an sich wertvoll ist. Weil politische Teilhabe nicht nur für die Selbstachtung, sondern für volles menschliches Wohlergehen unverzichtbar ist. John Rawls lehnte die Wahrheit des klassischen Humanismus ab. Die Politikwissenschaftlerin und Altphilologin Danielle Allen lehrt als Professorin an der Harvard University. Zugleich ist sie Direktorin des Edmond J. Safra Center for Ethics in Harvard.

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Der Mensch ist weder aufrichtig noch ehrlich

Friedrich Nietzsche hat sich von Beginn seiner Professorenkarriere an bis kurz vor seinem geistigen Zusammenbruch immer wieder neu mit der Wahrheitsfrage auseinandergesetzt. Dies geschah durchaus entlang eines Ariadnefadens. Dieser bringt Anfang wie Ende dieses Reflektierens im als Motto angeführten Zitat aus „Ecce homo“ auf den wichtigen Punkt: „Ich erst habe die Wahrheit entdeckt, dadurch dass ich zuerst die Lüge als Lüge empfand.“ Christian Niemeyer schließt allerdings aus, dass Friedrich Nietzsche zeitlebens an der Dekonstruktion der Idee von Richtigkeit und Wahrheit gearbeitet hat. Im Essay „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“, den Friedrich Nietzsche bewusst geheim gehalten hatte, ist folgende Definition zentral: „Wahrheit ist (e)in bewegliches Heer von Metaphern.“ Der Erziehungswissenschaftler und Psychologe Prof. Dr. phil. habil. Christian Niemeyer lehrte bis 2017 Sozialpädagogik an der TU Dresden.

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Europa erfindet die Demokratie

Zu den Hochwerten der europäischen Kulturgeschichte gehört die Erfindung der Demokratie. Sie wird heute in allen großen Reden auf die Europäische Union (EU) als eine Haupterrungenschaft der europäischen Kultur gepriesen. Verbunden ist sie mit Begriffen wie Toleranz, Menschenrechte, Freiheit und anderen mehr. Silvio Vietta weiß natürlich auch: „Dabei hatte die Demokratie in Europa lange Zeit einen schweren Stand. Der Wert der Demokratie war nämlich immer auch umstritten. Ist sie nicht auch eine Form der Pöbel-Herrschaft? Gibt sie nicht Macht in Hände, die damit nicht vernünftig und rational umgehen können?“ Und handelt es sich eigentlich noch um eine gut funktionierende Demokratie, wenn bei vielen Wahlen ein hoher Prozentsatz der Bevölkerung gar nicht mehr von seinem Wahlrecht Gebrauch macht? Prof. em. Dr. Silvio Vietta hat an der Universität Hildesheim deutsche und europäische Literatur- und Kulturgeschichte gelehrt.

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Ohne Wahrheit gibt es keine Gerechtigkeit

Ohne die Erforschung der materiellen Wahrheit, so sagt das Bundesverfassungsgericht, „kann Gerechtigkeit nicht verwirklicht werden“. Das ist für Thomas Fischer eine Aussage, die starke und dezidierte Programmsätze enthält. Es gibt materielle, also „wirkliche“ Wahrheit und Unwahrheit. Es existiert ein normatives und empirisches Konzept, auf dessen Grundlage man zwischen beiden unterscheiden kann. Und es gibt eine Ansicht von Gerechtigkeit, die mit der Wahrheit oder der Verpflichtung zu deren Vorstellung nicht substanziell und zwingend verbunden ist: „Ohne Wahrheit keine Gerechtigkeit“, könnte man daraus schließen, würde damit aber überinterpretieren. Thomas Fischer stellt fest: „Denn was Wahrheit wirklich ist, und ob man sie im Einzelfall zutreffend und ausreichend erforscht hat, weiß das Verfassungsgericht auch nicht.“ Thomas Fischer war bis 2017 Vorsitzender des Zweiten Senats des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe.

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Die Dialektik lebe hoch

Patrick Eiden-Offe fordert: „Die Dialektik, sie lebe hoch – auch und gerade in finsteren Zeiten. Sie lebe hoch, nicht als ein Ordnungswissen. Sondern als eine Sichtweise, die jene Unordnung sichtbar macht, auf der sich jede Ordnung erhebt.“ Die Dialektik lebe hoch als Einübung in einen Blick, der selbst noch in den finstersten Machenschaften der Gegenwart die Komödie zu erblicken vermag. Und in der Komödie die nicht zu unterdrückende Tendenz jeder Ordnung zu erkennen, sich selbst zu entlarven. Wenn die Dialektik ein Weltprinzip ist, wie es die Hegelianer aller Zeiten immer wieder behauptet haben, dann muss sie nach Bertolt Brecht als „humoristisches Weltprinzip“ gelten. Nämlich als ein Weltprinzip davon, dass es kein Weltprinzip geben kann. Ja, es ist eine Komödie, auch und gerade, wenn es nichts zu lachen gibt. Patrick Eiden-Offe ist Literatur- und Kulturwissenschaftler.

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Filter beeinflussen die Wahrheit

Was eine körperliche Misshandlung ist, so scheint es, weiß doch jeder. Immer wieder erstatten Menschen Strafanzeigen wegen Körperverletzung, weil die Musik zu laut oder der Nachbarsgrill zu stinkend war. In solchen Fällen fallen die Antworten schon weniger sicher aus. Und warum das Überfliegen eines Wohngebiets zum Start von Großraumflugzeugen keine tatbestandliche „Misshandlung“ ist, weiß man erst recht nicht. Thomas Fischer stellt fest: „Es sind also bereits die strafrechtlichen Tatbestände, die einen ersten Filter vor die Feststellung von Wahrheit setzen.“ Ein entscheidender Filter der Wahrheit ist dann das Strafverfahren, und zwar durch seine formelle Struktur selbst. Eine Strafanzeige oder eine Verfahrenseröffnung durch die Staatsanwaltschaft führt in der Praxis dazu, dass ein „Sachverhalt aufgeklärt“ wird. Thomas Fischer war bis 2017 Vorsitzender des Zweiten Senats des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe.

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Stummes Wissen durchzieht den Alltag

Künstliche Intelligenz baut keine Welt auf und schon gar nicht das Gefühl, sich in einer solchen Welt zu befinden. Doch gerade dieses „In-der-Welt-Sein“ ist elementar für alles menschliche Erleben. Der deutsche Philosoph Martin Heidegger hat das schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert gezeigt. Von hier aus unterscheiden Menschen, was für sie relevant ist und was nicht. Richard David Precht stellt fest: „Eine riesige Menge stummen Wissens durchzieht unseren Alltag, bestimmt unsere Handlungen und unsere Sprache. Bedeutungen werden nicht logisch erschlossen, sondern dem Kontext abgelauscht. Unser Denken hat einen feinen, gesamtkörperlichen Sinn für Stimmungen, Zwischentöne und komplexe Zusammenhänge.“ Jedes Thema erscheint einem Menschen in einem Horizont von persönlichem und kulturellem Vorwissen. Der Philosoph, Publizist und Autor Richard David Precht zählt zu den profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.

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Die Außenwelt ist vom Bewusstsein unabhängig

Der naive Realismus geht davon aus, dass es eine Außenwelt gibt, die vom Bewusstsein unabhängig ist. Deren Vorhandensein ist der entscheidende Grund dafür, dass man Realist sein sollte. Markus Gabriel erläutert: „Naiv an dieser Annahme ist, dass sie entweder letztlich trivial ist und von niemanden bestritten werden sollte. Oder das sie theoretisch unzureichend fundiert ist.“ Sie ist letztlich trivial insofern, als sie sich auf das Argument aus der Faktizität verlassen darf. Dieses besagt in aller Kürze, dass jede theoretisch artikulierbare Stellung des Gedankens zur Objektivität damit rechnet, dass irgendetwas unabhängig von einer Registrierung ist. Markus Gabriel hat seit 2009 den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne. Zudem ist er dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.

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Das Schicksal ist allmächtig

Zuweilen ruft das Gewissen laut, und das gute ist der bessere Ratgeber als das schlechte. Dieses schleppt sich dahin, und oft verrät sich das Gewissen aus eigenem Antrieb. In der Antike steht die moralische Schuld im Schatten des allmächtigen Schicksals. Dieses sucht den einzelnen Menschen ohne Rücksicht auf dessen Motive heim. In der Neuzeit dagegen tritt epochales Unrecht in der Regel bereits in Begleitung des Unrechtsbewusstseins auf. In Michel de Montaignes Essai sind es Überlegungen zur Folter, die das Gewissen auf den Plan rufen. Offenbar bedarf diese auch damals schon der Rechtfertigung. Erst die Folter, so lautet sie, könne die unterdrückte Stimme des Gewissens zum Klingen bringen. Michel de Montaigne (1533 – 1592) hatte mit seinen Essais schon zu Lebzeiten durchschlagenden Erfolg.

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Die große Lüge ist auf Gewalt angewiesen

Von George Orwell bis Arthur Koestler waren europäische Autoren des 20. Jahrhunderts besessen vom Gedanken der großen Lüge. Dabei handelt es sich um das ideologische Gebäude des Kommunismus und des Faschismus. Da gab es die Plakate, die Treue gegenüber Partei und Führer verlangten, die marschierenden Braun- und Schwarzhemden, die Fackelzüge und die Geheimpolizei. Anne Applebaum weiß: „Die große Lüge war derart absurd und unmenschlich, dass sie nur mit Gewalt durchzusetzen und aufrechtzuerhalten war.“ Sie verlangte Zwangsbildung, absolute Kontrolle über die Natur und die Instrumentalisierung von Journalismus, Sport, Literatur und Kunst. Die polarisierenden politischen Bewegungen des 21. Jahrhunderts brauchen dagegen keine Massenbewegung. Anne Applebaum ist Historikerin und Journalistin. Sie arbeitet als Senior Fellow an der School of Advanced International Studies der Johns Hopkins University.

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Es gibt nicht die eine deutsche Geschichte

Helmut Walser Smith beschreibt in seinem neuen Buch „Deutschland“ die Geschichte der deutschen Nation von 1500 bis in die Gegenwart. Dabei hält er die Idee des Nationalstaats und die Ideologie des Nationalismus hellsichtig auseinander. Imaginationen von Deutschland und deutsche Wirklichkeit stoßen in seinem Werk hart aufeinander. Die nationalistischen Exzesse des Dritten Reichs im 20. Jahrhundert schildert Helmut Walser Smith ebenso eindringlich wie schonungslos. Seine klugen Gedanken über Deutschland und das Erbe seiner Vergangenheit reichen bis hin zur Bundestagsrede von Navid Kermani und den aktuellen Versuchen der Alternative für Deutschland (AfD), sich der deutschen Geschichte zu bemächtigen. Für den australischen Historiker Christopher Clark ist das Buch eine Pflichtlektüre für jeden, der sich für Deutschlands Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft interessiert. Helmut Walser Smith lehrt Geschichte an der Vanderbilt University in Nashville, Tennessee.

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Der Gottesglauben dämmert weg

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts nabelt sich die philosophische Psychologie von der spekulativen Philosophie ab. Sie entwickelt sich zu einer experimentellen Wissenschaft mit Forschern wie Wilhelm Hundt, William James und Gerard Heymans in Groningen. Ger Groot betont: „Das hat einen prägenden Einfluss auf die Art und Weise, wie die Menschen sich selbst sehen.“ Im Laufe des 19. Jahrhunderts sondert sich das Persönliche und da Religiöse zunehmend voneinander ab. Und die Bedeutung des „einzigartigen Ichs“ wird außerhalb der religiösen Sphäre noch wichtiger und nachhaltiger als in ihr. Das Wegdämmern des Gottesglaubens zehrt nicht am Ich, sondern lässt es erstarken. Ger Groot lehrt Kulturphilosophie und philosophische Anthropologie an der Erasmus-Universität Rotterdam. Zudem ist er Professor für Philosophie und Literatur an der Radboud Universität Nijmegen.

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