Die Zukunft ist so real wie die Gegenwart

Florence Gaub vertritt in ihrem Buch „Zukunft“ die These, dass die Zukunft in den Gehirnen der Menschen so real ist wie die Gegenwart. Die Autorin schreibt: „Sie ist also nicht eine Zeit, die noch kommt, sondern ein individueller, kreativer, imaginärer und sinnlicher Prozess, bei dem eine zukünftige Realität erzeugt wird.“ Diese Fähigkeit bildet die Basis für Erwartungen, Entscheidungen und den freien Willen. Daher sind Menschen nicht nur Wesen, die durch ihre Fähigkeit zur Vernunft definiert sind. Sondern sie können gedanklich auch in die Zukunft reisen. Für Florence Gaub ist die Zukunft keine ferne Zeit, sondern etwas, das alle Menschen ständig erzeugen. Obwohl man das Wort Zukunft in der Regel in der Einzahl benutzt, ist sie eigentlich immer eine Vielzahl. Die Zukunft ist zudem alles, was sich Menschen über sie vorstellen können. Dr. Florence Gaub ist Politikwissenschaftlerin, Militärstrategin und Zukunftsforscherin. Sie leitet als Direktorin den Forschungsbereich NATO Defense College in Rom.

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Künstliche Intelligenz kann Entscheidungen verbessern

Wenn Entscheidungen zu treffen sind, verwenden Experten meist weniger Informationen als Neulinge. Denn sie wissen, was relevant ist und ignorieren den Rest. Wenn einige Aspekte wichtiger sind als andere, halten sich Experten vorrangig an diese Merkmale und stützen ihre Entscheidung unter Umständen nur auf den wichtigsten Aspekt. Gerd Gigerenzers Forschungsteam hat diese Intuitionen in einfache Algorithmen programmiert, die effiziente Entscheidungsbäume heißen. Der Name bringt ihre rasche und ökonomische Logik zum Ausdruck. Gerd Gigerenzer weiß: „Psychologische Künstliche Intelligenz (KI) kann, wie im Fall von effizienten Entscheidungsbäumen, menschliche Entscheidungen fördern und verbessern.“ Im Gegensatz zu vielen komplexen Algorithmen ist psychologische KI transparent, was ihren Nutzern ermöglicht, einen Algorithmus zu verstehen und ihn an veränderte Situationen anzupassen. Gerd Gigerenzer ist ein weltweit renommierter Psychologe. Das Gottlieb Duttweiler Institut hat Gigerenzer als einen der hundert einflussreichsten Denker der Welt bezeichnet.

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Algorithmen benötigen eine stabile Welt

Beim Online-Dating hat zwar jede Person ein Profil, aber das Profil ist nicht die Person. Gerd Gigerenzer weiß: „Die Menschen neigen dazu, ihre Profile zu schönen. Und selbst wenn sie gewissenhaft zu Werke gehen, wird das Profil nicht der Vielschichtigkeit eines Menschen gerecht.“ Allgemeiner kommt diese Erkenntnis im „Prinzip der stabilen Welt“ zum Ausdruck. Komplexe Algorithmen arbeiten am zuverlässigsten in wohldefinierten, stabilen Situationen, in denen große Datenmengen zur Verfügung stehen. Die menschliche Intelligenz dagegen hat sich entwickelt, um Ungewissheit zu bewältigen, unabhängig davon, ob Big oder Small Data vorliegen. Die Regeln von Schach oder Go sind wohldefiniert und insofern stabil, als sie heute und morgen gelten. Gerd Gigerenzer ist ein weltweit renommierter Psychologe. Das Gottlieb Duttweiler Institut hat Gigerenzer als einen der hundert einflussreichsten Denker der Welt bezeichnet.

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Manche Risiken sind unberechenbar

Jonathan Aldred stellt fest: „Manche Risiken haben zwei Merkmale, die es sehr viel schwieriger machen, mit ihnen fertig zu werden. Erstens: reine Ungewissheit. Zweitens: das Potenzial einer Katastrophe.“ Dabei handelt es sich nicht nur um eine negative, sondern um eine qualitativ andersartig negative Entwicklung. Diese führt in vielen Fällen zu unumkehrbaren Schäden oder Verlusten. Oder es kommt zu einem Zusammenbruch der zugrunde liegenden Systeme, Organisationen oder Bezugssysteme, innerhalb derer man Entscheidungen trifft. Vermutlich weisen sowohl die Klimaveränderung als auch globale Finanzkrisen diese beiden Merkmale auf. Wenn es um solche Risiken geht, ist das traditionelle ökonomische Denken fahrlässig. Jonathan Aldred ist Direktor of Studies in Ökonomie am Emmanuel College. Außerdem lehrt er als Newton Trust Lecturer am Department of Land Economy der University of Cambridge.

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Menschen können ihr Schicksal selbst bestimmen

Wahrscheinlichkeit ist keine neue Idee. Es gibt schon lange die Vorstellung, dass die Menschen der Zukunft nicht passiv entgegensehen müssen. Sondern sie können ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Dies wurde einstmals als Selbstbehauptung gegen die Götter gesehen sowie gegen die unergründliche Natur. Es ist für Jonathan Aldred kein Zufall, dass moderne Konzepte über Wahrscheinlichkeiten sich in der westlichen Gesellschaft gegen Ende des 18. Jahrhunderts endgültig durchsetzen. Denn dies geschah zu einer Zeit, als der eiserne Griff der Kirche sich durch den Triumph der Aufklärung zu lockern begann. Probabilistisches Denken stand für den zuversichtlichen Glauben, die stoische Unterwerfung unter Ungewissheiten durch Fortschritt hinter sich lassen zu können. Jonathan Aldred ist Direktor of Studies in Ökonomie am Emmanuel College. Außerdem lehrt er als Newton Trust Lecturer am Department of Land Economy der University of Cambridge.

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Herbert Simon war einer der Begründer der KI

Warum kann künstliche Intelligenz (KI) beim Schach gewinnen, aber nicht den passendsten Partner finden? Schließlich scheint das Ziel doch ähnlich zu sein. Man weist jedem Zug oder Kandidaten einen Wert zu und sucht dann den besten aus. Gerd Gigerenzer ergänzt: „Schachalgorithmen wie Deep Blue weisen den Milliarden mögliche Stellungen, die das System vorhersehen kann, Werte zu. Genauso wie Liebesalgorithmen Millionen von potenziellen Partnern Punkte zuordnen.“ Beim Schach klappt das wunderbar. Warum nicht auch in allen anderen Bereichen? Herbert Simon war einer der Begründer der Künstlichen Intelligenz. Und er war bislang der einzige Wissenschaftler, der sowohl den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften und den Turing Award – informell auch Nobelpreis für Informatik – erhalten hat. Gigerenzer ist ein weltweit renommierter Psychologe. Das Gottlieb Duttweiler Institut hat Gigerenzer als einen der hundert einflussreichsten Denker der Welt bezeichnet.

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Die Normalverteilung ist ein vertrautes Muster

Das konventionelle Denken über Ungewissheiten basiert auf der Annahme, dass ungewisse Phänomene einem vertrauten Muster folgen. Dieses ist in der Natur häufig zu finden, nämlich als Normalverteilung. Jonathan Aldred erklärt: „So folgt zum Beispiel die Körpergröße von Menschen einer Normalverteilung.“ Es gibt eine typische Körpergröße, und die Anzahl der Menschen mit anderen Größen nimmt ab, je weiter man sich von diesem Durchschnittswert entfernt. Die Wahrscheinlichkeit, einem Menschen einer bestimmten Körpergröße zu begegnen, sinkt immer schneller, je weiter man sich von der Durchschnittsgröße entfernt. Abhängig davon, welche Annahmen man über die heutige Weltbevölkerung trifft, ist der Mensch im Durchschnitt etwa 1,67 Meter groß. Jonathan Aldred ist Direktor of Studies in Ökonomie am Emmanuel College. Außerdem lehrt er als Newton Trust Lecturer am Department of Land Economy der University of Cambridge

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Frank. P. Ramsey war seiner Zeit weit voraus

Die Konzepte über Wahrscheinlichkeit des Genies Frank. P. Ramsey wurden 50 Jahre lang beinahe völlig ignoriert. Aber warum? Jonathan Aldred erklärt: „Zunächst einmal erschienen Ramseys Ideen als ein posthumer Beitrag zur Philosophie der Überzeugungen.“ Sie wurden von Ökonomen und anderen, die an praktischen Anwendungen einer Wissenschaft der Gesellschaft interessiert waren, nicht gelesen. Und Frank P. Ramsey war seiner Zeit wirklich meilenweit voraus. Die existierenden Theorien und Denker konnten mit seinen Ideen zur Mathematik, Ökonomie und Philosophie erst in den 1960er-Jahren etwas anfangen und sie weiterentwickeln. In den 1920er-Jahren erkannten niemand die wahre Originalität und Bedeutung seiner Arbeit. Jonathan Aldred ist Direktor of Studies in Ökonomie am Emmanuel College. Außerdem lehrt er als Newton Trust Lecturer am Department of Land Economy der University of Cambridge.

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Frank P. Ramsey denkt über Ungewissheit nach

Der britische Philosoph, Mathematiker und Ökonom Frank P. Ramsey begann schon im Alter von 18 Jahren über Wahrscheinlichkeit und Ungewissheit nachzudenken. Jonathan Aldred weiß: „Als Erstes verfasste er eine Kritik der Wahrscheinlichkeitstheorie von John Maynard Keynes.“ Zehn Jahre hatte der britische Ökonom seine umstrittene Theorie hartnäckig verteidigt. Das änderte sich, als er 1931 Frank P. Ramseys Arbeit „Truth and Probability“ las. Erst dann änderte John Maynard Keynes seine Meinung: „Ich gebe mich Ramsey geschlagen – ich glaube, er hat recht.“ Doch in gewisser Hinsicht war es dafür schon zu spät. Frank P. Ramseys intellektueller Triumpf ging in einer weit größeren Tragödie unter. Jonathan Aldred ist Direktor of Studies in Ökonomie am Emmanuel College. Außerdem lehrt er als Newton Trust Lecturer am Department of Land Economy der University of Cambridge.

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Die digitale Welt bietet Chancen und Risiken

In seinem neuen Buch „Klick“ beschreibt der Psychologe und Risikoforscher Gerd Gigerenzer anhand vieler konkreter Beispiele, wie Menschen die Chancen und Risiken der digitalen Welt für ihr Leben richtig einschätzen können. Dabei geht es auch um die Frage, wie man sich am besten vor den Verlockungen sozialer Medien schützen kann. In den letzten Jahren hat Gerd Gigerenzer bei vielen populärwissenschaftlichen Veranstaltungen über Künstliche Intelligenz (KI) gesprochen. Dabei war er immer wieder überrascht, wie verbreitet das bedingungslose Vertrauen in komplexe Algorithmen zu sein scheint. Wenn man Menschen durch Software ersetze, könne man die Welt besser und angenehmer machen, versicherten die Tech-Vertreter den Zuhörern. Gerd Gigerenzer ist ein weltweit renommierter Psychologe. Das Gottlieb Duttweiler Institut hat Gigerenzer als einen der hundert einflussreichsten Denker der Welt bezeichnet.

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Der Fortschritt wird immer unberechenbarer

Eine Ära der Unsicherheit hat weltweit begonnen. Die Menschen müssen umdenken und lernen, in und mit dauerhaft unsicheren Zeiten zu leben. Horst Opaschowski nennt ein Beispiel: „Die Finanzmärkte kennen diese Volatilität schon lange: Kein Vermögenswert ist mehr wirklich sicher.“ Nach dem amerikanischen Risikoforscher Nicholas Taleb brauchen die Menschen ein neues Denken für eine Welt, die bei allem Fortschritt immer unberechenbarer wird. Seine Antwort und Empfehlung für die Herausforderungen in unsicheren Zeiten lautet: „Antifragilität“. Damit ist eine Lebenshaltung gemeint, die mehr als stark, solide, robust und unzerbrechlich ist. Horst Opaschowski gründete 2014 mit der Bildungsforscherin Irina Pilawa das Opaschowski Institut für Zukunftsforschung. Bis 2006 lehrte er als Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Hamburg. Ab 2007 leitete er die Stiftung für Zukunftsfragen.

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Die Existenz geht der Essenz voraus

Das Titelthema des neuen Philosophie Magazins 05/2020 lautet: „Ins Offene – Wie lebe ich mit der Ungewissheit?“ Nichts ist sicher, nichts vorhersehbar. In der Coronakrise spitzt sich die Unsicherheit zu, die fundamental für das Leben vieler Menschen ist. Selten war die so planungsbedürftige Zivilisation mit so viel Ungewissheit konfrontiert wie derzeit. Doch so historisch einmalig die aktuelle Situation auch wirken mag, offenbart sich in ihr dennoch nichts grundsätzlich Neues, sondern vielmehr die Intensivierung eines menschlichen Grundgefühls. Denn es ändert sich im Grundsatz eben nichts daran, dass Menschen ungewiss in die Welt gestellt sind. Sie müssen also mit der Offenheit ihrer Existenz umgehen. Exemplarisch mag dafür der berühmte Satz von Jean-Paul Sartre stehen: „Die Existenz geht der Essenz voraus.“ Das heißt: Der Mensch tritt in die Welt ein, ohne in seinem Wesen festgelegt zu sein.

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Die Wahrheit befindet sich in einer tiefen Krise

Es ist schwer und oft prinzipiell unmöglich, unter der herrschenden Flut von Informationen zu entscheiden, was denn nun stimmt und was nicht. Bernhard Pörksen schreibt: „In der Situation einer allgemeinen Verunsicherung wuchert der Verdacht, regiert der Zweifel und dominiert das Geraune. Es suggeriert den Durchblick, aber offenbart eigentlich doch nur Verwirrung und Verstörung.“ Zudem kommuniziert der vernetzte Mensch unter den gegenwertigen Medienbedingungen konstant mit „Entitäten“. Deren Absichten und Interessen, deren Integrität oder Status – Mensch oder Maschine, neutraler Beobachter oder Propagandist – lassen sich nicht sicher einschätzen. Daher stellt sich die Frage, was überhaupt als echte, wahrheitsgetreue und authentische Kommunikation betrachtet werden kann – und was eben nicht. Die digitale Öffentlichkeit stellt den vernetzten Menschen also vor das Problem, die zahlreich verbreiteten Falsch- und Fehlinformationen überhaupt zu erkennen. Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen.

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Vorhersehbarkeit ist eine fundamentale Dimension sozialer Interaktionen

Für den Soziologen und Gesellschaftstheoretiker Niklas Luhmann ist die Reduktion von Komplexität und Ungewissheit ein grundlegender Bestandteil sozialer Prozesse. Eva Illouz erläutert: „Liebe ist – wie Wahrheit, Geld oder Macht – ein Kommunikationsmedium, das dabei hilft, Erwartungen zu erzeugen, eine Entscheidung unter vielen möglichen anderen auszuwählen, Motivationen mit Handlungen zu verbinden sowie Gleichheit und Vorhersehbarkeit in Beziehungen zu schaffen.“ Ein solches Medium der Kommunikation bringt Rollen hervor, die wiederum erwartete Ergebnisse produzieren. Vorhersehbarkeit ist eine fundamentale Dimension sozialer Interaktionen, die beispielsweise in Riten besonders deutlich zum Ausdruck kommt. Wenn Interaktionen ritualisiert werden, erzeugen sie Gewissheit über die Beziehungsdefinition der Akteure, über ihre Position in einer solchen Beziehung und über die dazugehörigen Verhaltensregeln. Eva Illouz ist Professorin für Soziologie an der Hebräischen Universität von Jerusalem sowie Studiendirektorin am Centre européen de sociologie et de science politique de la Sorbonne.

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Ungewissheit zählt zur Grunderfahrung des Menschen

Sehr viele Menschen leben heute in Gesellschaften, in denen sich Veränderung mit einer so hohen Geschwindigkeit vollziehen, dass sie den Überblick zu verlieren drohen. Frühere Gesellschaften boten ihren Mitgliedern bei allen stürmischen Entwicklungen und Zumutungen immer noch einen relativ stabilen Orientierungs- und Entfaltungsrahmen, der für Überblick, Strukturierung, Klarheit, Abschätzbar- und Überschaubarkeit der individuellen Lebensführung einigermaßen Sorge trug. Ernst-Dieter Lantermann erklärt: „Diese Lebensgewissheiten kann eine moderne Gesellschaft nicht mehr leisten. Ungewissheit und Unsicherheit sind zu Grunderfahrungen von uns allen geworden, ob wir dies nun gutheißen oder nicht.“ Der Historiker Heinrich August Winkler spricht von einem „Zeitalter der allgemeinen Verunsicherung“, der Philosoph Zygmunt Baumann von einer „fluiden“ Gesellschaft, in der alles im Fluss sei und keine Stabilitäten mehr Geltung hätten. Ernst-Dieter Lantermann war von 1979 bis 2013 Professor für Persönlichkeits- und Sozialpsychologie an der Universität Kassel.

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Soziale Kräfte untergraben die sexuelle Emanzipation

In der zeitgenössischen Sexualität kommt nicht etwa eine von der amoralischen Populärkultur freigesetzte rohe heidnische Energie zum Ausdruck. Sondern sie ist vielmehr der Träger einer Reihe von sozialen Kräften, die genau jene Werte untergraben, die den Kampf für die sexuelle Emanzipation einmal beflügelt haben. Eva Illouz erläutert: „Die Sexualität ist zu einem Feld für psychologische Humantechniken, Technologien und den Konsumentenmarkt geworden, die eines gemeinsam haben: Sie organisieren und übersetzen das Begehren und die zwischenmenschlichen Beziehungen in eine schiere Angelegenheit der individuellen Wahl.“ Die – sexuelle, konsumbezogene und emotionale – Wahl ist das Leitmotiv, an dem sich das Selbst und der Wille im liberalen Gemeinweisen orientieren. Eva Illouz ist Professorin für Soziologie an der Hebräischen Universität von Jerusalem sowie Studiendirektorin am Centre européen de sociologie et de science politique de la Sorbonne.

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Das Selbst ist einem ständigen Wandel unterworfen

Es ist das Akzeptieren von Vielfalt, von Zweideutigkeit, von verschiedenen möglichen Wegen, die einem Menschen die Augen für das Eigene öffnen. Dabei geht es auch um das Einräumen von Uneindeutigkeit und inneren und äußeren Grenzen, die man mitdenken muss – und zwar gerade dann, wenn man auf der Suche nach dem Wahren, dem Wahrhaftigen ist. Ina Schmidt weiß: „Es ist der Mut, den wir brauchen, einer solch zweideutigen Wahrheit gegenüberzutreten, eröffnet die Möglichkeit, sich wirklich selbst zu begegnen.“ Es geht also nicht darum, das eigene Wesen aufzudecken, sondern sich in einem werdenden Sein zurechtzufinden, einem Selbst, das aufmerksamer Betrachtung und Begleitung bedarf, um in allem Wandel immer wieder ein Selbst bleiben zu können. Ina Schmidt gründete 2005 die „denkraeume“, eine Initiative, in der sie in Vorträgen, Workshops und Seminaren philosophische Themen und Begriffe für die heutige Lebenswelt verständlich macht.

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Die eigene Identität ist durch die Pluralisierung bedroht

Alle pluralisierten Schauplätze verdoppeln sich. Wahlweise könnte man auch sagen, dass sie sich spalten. Isolde Charim nennt als Beispiel die Identität. Der Schriftsteller Navid Kermani meinte in einem Interview, die Menschen im Westen leben heute „in einem fragilen Gleichgewicht“, das ständig bedroht sei durch die unterschiedlichen Identitäten. Denn, so Navid Kermani, „Identität bildet sich selbst im friedlichen Fall in Abgrenzung von anderen heraus“. So unmittelbar einleuchtend dieser Satz auch zu sein scheint – für eine pluralistische Gesellschaft trifft er nicht ganz zu. Nicht weil pluralisierte Gesellschaften sich so an ihrer Buntheit und Vielfalt erfreuen würden, dass sie im Taumel einer umfassenden Umarmung versinken würden. Die Philosophin Isolde Charim arbeitet als freie Publizistin und ständige Kolumnistin der „taz“ und der „Wiener Zeitung“.

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Der Glaube ist etwas Irrationales

Søren Kierkegaard (1813 – 1855) beschäftigt sich in seinem berühmtesten Werk „Entweder – Oder“ (1843) mit dem Thema der Entscheidungsfindung. Nigel Warburton erklärt den Inhalt: „Dieses Buch stellt den Leser vor die Entscheidung, entweder ein Leben des Vergnügens und der Schönheit zu wählen oder eines, das auf konventionellen Moralregeln gründet – eine Entscheidung zwischen Ästhetik und Ethik.“ Und immer wieder kehrte er in seinen Schriften auf ein Thema zurück – den Glauben an Gott. Den Mittelpunkt bildet die Geschichte von Abraham. Für Søren Kierkegaard ist der Glaube an Gott keine einfache Entscheidung, sondern eine, die einen Sprung ins Ungewisse erfordert, eine im Glauben getroffene Entscheidung, die sich sogar gegen konventionelle Vorstellungen von dem, was man tun sollte, wendet. Der Philosoph Nigel Warburton ist Dozent an der Open University. Er gibt außerdem Kurse über Kunst und Philosophie am Tate Modern Museum.

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Immer mehr Menschen lösen ihre Beziehungen auf

In ihrem neuen Buch „Warum Liebe endet“ zeigt Eva Illouz, warum mit Blick auf die sexuellen und romantischen Beziehungen vor allem eines selbstverständlich geworden ist: sich von ihnen zu verabschieden. Außerdem hat die Sozilogin anhand von zahlreichen Gesprächen und ausführlichem Quellenstudium herausgefunden, wie es um Beziehungen in Zeiten von Speed-Dating und Tinder, von Gelegenheitssex und Körperkult bestellt ist. Einer ihrer Befunde lautet: Insbesondere Frauen sind die Leidtragenden dieser gleichermaßen sexualisierten wie sexuell befreiten Kultur. Daneben beschreibt Eva Illouz, welche kulturellen und emotionalen Mechanismen Menschen dazu bringen, Beziehungen auf den Prüfstand zu stellen, aufzulösen, abzulehnen oder prinzipiell zu vermeiden. Eva Illouz ist Professorin für Soziologie an der Hebräischen Universität von Jerusalem sowie Studiendirektorin am Centre européen de sociologie et de science politique de la Sorbonne.

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Yuval Noah Harari erteilt 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert

In seinem neuen Buch „21 Lektionen über das 21. Jahrhundert lädt Yuval Noah Harari seine Leser ein, in einer Zeit voller Aufruhr und Ungewissheit über Werte und persönliches Engagement nachzudenken. In einer Welt, die überschwemmt wird von bedeutungslosen Informationen, ist Klarheit im Denken eine machtvolle Fähigkeit. Doch leider können sich die meisten Menschen nicht den Luxus leisten, sich mit den drängenden Fragen der Gegenwart zu beschäftigen, weil der Alltag ihnen kaum eine Verschnaufpause bietet und sie meist Dringenderes zu erledigen haben. Aber die Geschichte gewährt keinen Rabatt. Kein Mensch wird von den Folgen verschont bleiben, wenn über die Zukunft der Menschheit von anonymen Eliten entschieden wird. Yuval Noah Harari lehrt Geschichte an der Hebrew University in Jerusalem mit einem Schwerpunkt auf Weltgeschichte. Seine Bücher „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ und „Homo Deus“ wurden zu Weltbestsellern.

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Nassim Nicholas Taleb kennt das Risiko und seinen Preis

Bestsellerautor Nassim Nicholas Taleb zeigt in seinem neuen Buch „Das Risiko und sein Preis“ aus vielen Beispielen aus dem Alltag, wo Fairness, Verantwortungsgefühl, Anstand fehlen und stattdessen billiges Geschwätz, Verantwortungslosigkeit, Egoismus und Blenderei die Oberhand behalten. Es ist auch eine Kombination aus praktischen Erörterungen, philosophischen Geschichten sowie wissenschaftlichen und analytischen Kommentaren zu den Problemen der Zufälligkeit. Und es dreht sich um die Frage wie Menschen unter dem Vorzeichen der Ungewissheit leben, essen, schlafen, diskutieren, kämpfen, Freundschaften schließen, arbeiten, sich amüsieren und Entscheidungen treffen sollen. „Das Risiko und sein Preis“ handelt von vier Themen: a) Ungewissheit und die Zuverlässigkeit von Wissen; b) Symmetrie in zwischenmenschlichen Angelegenheiten: Fairness, Gerechtigkeit, Verantwortung und Gegenseitigkeit; c) Informationsaustausch bei Transaktionen und d) Rationalität in komplexen Systemen und in der Realität. Nassim Nicholas Taleb ist Finanzmathematiker, philosophischer Essayist, Forscher in den Bereichen Risiko und Zufall sowie einer der unkonventionellsten Denker der Gegenwart.

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Fehlende Kontrolle über das eigenen Leben verursacht chronischen Stress

Die Hauptursache von chronischem Stress sind nicht irgendwelche Widrigkeiten, die das Leben nun einmal bereithält. Vielmehr geht er mit dem Erleben einher, den Dingen beziehungsweise der Umgebung gegenüber ausgeliefert zu sein und keine Kontrolle über das eigene Schicksal zu haben. Manfred Spitzer ergänzt: „Es ist hier meist nicht irgendein akutes Ereignis gemeint, sondern das dumpfe Gefühl, das eigene Leben nicht im Griff zu haben und den Umständen ohnmächtig ausgesetzt zu sein. Dieses Gefühl der fehlenden Kontrolle über das eigene Leben ist chronischer Stress.“ Es ist also die Ungewissheit einer Situation, die einen Menschen stresst, nicht deren Widrigkeit. Ein weit verbreitetes Phänomen ist dabei der Stress am Arbeitsplatz. Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer leitet die Psychiatrische Universitätsklinik in Ulm und das Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen.

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Vertrauen vermindert das Gefühl der Machtlosigkeit

Soziale Kompetenzen stellen eine wichtige innere Ressource für die Bewältigung von Unsicherheit dar. Menschen mit hohen sozialen Kompetenzen können leicht Beziehungen zu anderen Menschen anknüpfen, aufrechterhalten und befriedigend gestalten und haben kein Problem damit, andere Menschen um Hilfe oder Unterstützung zu bitten, wenn es die Lage erfordert. Auch andere Eigenschaften einer Persönlichkeit helfen dabei, sich angesichts unsicherer Ereignisse und Anforderungen zu behaupten. Ernst-Dieter Lantermann nennt als Beispiele das Bedürfnis nach kognitiver Geschlossenheit und die Vorliebe für erregende Ungewissheit. Eine weitere bedeutsame Ressource für einen gelingenden Umgang mit unsicheren Anforderungen stellen unterschiedliche Dimensionen von Vertrauen dar. Vertrauen mindert das Gefühl von Machtlosigkeit und Unkontrollierbarkeit in unübersichtlichen, ungewissen und unsicheren Situationen. Ernst-Dieter Lantermann war von 1979 bis 2013 Professor für Persönlichkeits- und Sozialpsychologie an der Universität Kassel.

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Einsamkeit verursacht die verschiedensten Krankheiten

Einsamkeit ist eine weltweite Epidemie. Laut einer vergleichenden Umfrage hat sich zumindest in den USA die Zahl der Menschen, die keinen Vertrauten haben, mit dem sie über wichtige Dinge reden können, in weniger als zwei Jahrzehnten, von 1985 bis 2004, fast verdreifacht. Der Hirnforscher und Neurowissenschaftler Giovanni Frazzetto stellt fest: „Einsamkeit kann genauso wie Rauchen, Fettleibigkeit, Bewegungsmangel oder Luftverschmutzung zu einem frühen Tod führen.“ Die Einsamkeit schädigt den Körper eines Menschen und verändert seine Wahrnehmung der Welt und wie er mit ihr interagiert. Sie verursacht Erschöpfung und Schlafstörungen und geht einher mit Stress, Angst und Depressionen. Sie wird mit erhöhtem Blutdruck und Schädigungen des Herz-Kreislauf-Systems in Verbindung gebracht. Sei begünstigt zelluläre Entzündungsreaktionen und schwächt die Immunabwehr. Sie kann sogar zu geistigem Verfall und schließlich Demenz führen.

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