Der Kampf um die Wortmacht hat begonnen

Ohne dass viele Menschen es überhaupt bemerken, stecken sie mitten in einem großen Kampf. Dabei geht es um die Form, die Bedingungen und die Grenzen der globalen Redefreiheit. Sowohl in den Smartphones in ihren Taschen und vielleicht auch in ihren Köpfen. Timothy Garton Ash nennt dieses Ringen den Kampf um die Wortmacht. Wie das Wort „Rede“ in „Redefreiheit“ schließt der Begriff „Wort“ in „Wortmacht“ offensichtlich viel mehr mit ein als nur Worte. Timothy Garton Ash erklärt: „Er umfasst auch Bilder, Töne, Symbole, Informationen und Wissen sowie Kommunikationsstrukturen und Kommunikationsnetze.“ Der spanische Soziologe Manuel Castells spricht von der „Kommunikationsmacht“. Aber Timothy Garton Ash ist das kurze Wort lieber als das lange, besonders weil ohnehin jede Bezeichnung nur einen Teil des Ganzen erfasst. Timothy Garton Ash ist Professor für Europäische Studien an der Universität Oxford und Senior Fellow an der Hoover Institution der Stanford University.

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In der Leistungskultur herrscht der Wettbewerb

Die radikale Verantwortung für das eigene Ich geht mit einer Aufwertung der persönlichen Initiative und folgerichtig einer Leistungskultur einher, in der ein Mensch fortwährend seine inneren Ressourcen mobilisieren muss, um erfolgreich zu sein. Matthew B. Crawford weiß: „Dies zeigt sich zum Beispiel im verschärften Wettbewerb auf dem typisch „bürgerlichen“ Bildungsweg. Auf jeder Stufe, von der Vorschule bis zu den Zulassungstests für Aufbaustudien, findet eine harte soziale Auslese statt.“ Da man von der Annahme ausgeht, die modernen westlichen Gesellschaften funktionieren nach dem Leistungsprinzip, biete also in einem System ohne starre Strukturen faire Aufstiegschancen, ist das Scheitern mit einem schlimmen Stigma verbunden, als es bei einer realistischeren Vorstellung von der Gesellschaft der Fall wäre. Matthew B. Crawford ist promovierter Philosoph und gelernter Motorradmechaniker.

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Die Liebe ist für Max Scheler ein Urakt

Max Scheler vertritt eine Aktphänomenologie, für die das Fühlen als intentionaler Akt eine zentrale Rolle einnimmt. So etwa beim Erfühlen von Werten in seiner bekannten Schrift „Der Formalismus in der Ethik und die materielle Wertethik“. Mit welcher er sich nicht nur gegen die kantische Pflichtethik wendete. Sondern mit der er auch die Grundlegung einer bis heute einflussreichen Position der Wertethik vorlegte. Es verwundert daher nicht, dass in einer Theorie, die das Fühlen derart aufwertet, auch der Liebe eine wichtige Rolle zugeschrieben wird. Max Scheler postuliert einen Primat des Emotionalen im geistigen Geschehen. Dabei versteht er die Liebe als den „Urakt“ menschlicher Geistestätigkeit. Er geht hier von einem christlichen Liebesgedanken aus, wobei er stark an augustinische Gedanken anknüpft. Max Scheler (1874–1928) war ein deutscher Philosoph, Psychologe, Soziologe und Anthropologe.

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Menschen müssen täglich Entscheidungen treffen

In die „Freiheit geworfen“ wie es bei Jean-Paul Sartre heißt, ist der Mensch ständig gefordert, Entscheidungen zu treffen. Und egal, was er tut, es geht weiter und weiter. Ina Schmidt ergänzt: „Wir haben die Wahl, in den großen Fragen wie in den ganz normalen Alltäglichkeiten. Täglich entscheiden wir uns viel Hundert Mal, selbst wenn wir es nicht immer bemerken.“ In einer Welt voller Möglichkeiten jagt eine Entscheidung die nächste. Und wie man damit umgeht, hängt vielfach davon ab, welche Perspektive man einnimmt, wenn man auf diesem Grat des Möglichen entlangwandert. Es geht Ina Schmidt nicht darum, die Inhalte von Entscheidungen auf den Prüfstand zu stellen. Sondern sie denkt darüber nach, was ein Mensch eigentlich tut, wenn er eine Wahl trifft. Ina Schmidt gründete 2005 die „denkraeume“, eine Initiative, in der sie in Vorträgen, Workshops und Seminaren philosophische Themen und Begriffe für die heutige Lebenswelt verständlich macht.

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Durch Homöostase entwickeln sich die Gene

Der Mensch hat sich schon immer mit Schmerzen, Leiden und dem sicheren Tod auseinandergesetzt. Er tat dies als Gegensatz zu der unerreichten Möglichkeit von Wohlergehen und Gedeihen. Diese Gedanken dürften bei den Menschen hinter manchen kreativen Prozessen gesteckt haben, aus denen die heutigen, verblüffend komplexen Instrumente der Kultur hervorgegangen sind. Wenn man Menschenaffen beobachtet, spürt man, dass es Vorläufer des kulturellen Menschseins gibt. Antonio Damasio erläutert: „Schimpansen können einfache Werkzeuge herstellen. Sie nutzen sie auf intelligente Weise für die eigene Ernährung und geben die Erfindungen sogar auf visuellem Weg an andere weiter.“ Bevor in der Evolution die ersten kulturellen Ausdrucksformen entstehen konnten, musste man auf die evolutionäre Entwicklung von Geist und Gefühlen warten. Einschließlich des Bewusstseins, mit dem das Gefühl subjektiv erlebt werden konnte. Antonio Damasio ist Professor für Neurowissenschaften, Neurologie und Psychologie an der University of Southern California und Direktor des dortigen Brain and Creative Institute.

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Die Globalisierung löste eine Umverteilung aus

Die Globalisierung und neue Technologien wie Digitalisierung spalten laut Alexander Hagelüken den deutschen Arbeitsmarkt, schrumpfen die Mittelschicht und treiben die Einkommen auseinander. Die Globalisierung lässt Arbeitsplätze verschwinden wie beispielsweise jene in Schuhfabriken. Sie trifft Arbeitnehmer, die den gut ausgebildeten, aber trotzdem günstigen Asiaten oder Osteuropäern unterliegen. In Deutschland wirkte sich besonders der Fall des Eisernen Vorhangs aus, sagt Joachim Möller, Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Bis zur Wende nahmen die Reallöhne nämlich zu. Dann kam die Konkurrenz, etwa tschechische Arbeiter, die anfangs ein Zehntel deutscher Löhne verdienten. Joachim Möller erklärt: „Es wurden Arbeitsplätze verlagert. Vor allem wirkte die Drohung mit der Verlagerung: Das reichte schon, um in Deutschland niedrige Löhne durchzusetzen. Das veränderte die Machtverhältnisse zugunsten der Arbeitgeber.“ Alexander Hagelüken ist als Leitender Redakteur der Süddeutschen Zeitung für Wirtschaftspolitik zuständig.

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Der Staat muss die Meinungsfreiheit schützen

Der Staat muss das einsetzen, was der Soziologe Max Weber als „Monopol auf legitime physische Gewaltsamkeit“ bezeichnet, um diese Menschen zu beschützen und diejenigen zu verfolgen, die sie zu töten drohen. Timothy Garton Ash ergänzt: „Das ein Rund-um-die-Uhr-Schutz teuer ist, muss eine demokratische Regierung ihren Worten auch Taten, sprich Geld, folgen lassen, selbst wenn manche Steuer zahlenden Wähler das nicht gutheißen werden.“ Das setzt natürlich voraus, dass nicht der Staat selbst offen oder verdeckt die Quelle gewaltsamer Einschüchterung ist, sondern sie vielmehr entschlossen und mit allen Mitteln bekämpft. Doch selbst wenn ein Staat alles in seiner Macht unternimmt, um gefährdete Personen zu schützen, wird deren persönliche Erfahrung dennoch traumatisch sein. Timothy Garton Ash ist Professor für Europäische Studien an der Universität Oxford und Senior Fellow an der Hoover Institution der Stanford University.

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Die Machtzentren der Welt haben sich nicht verlagert

Die politische Ökonomie ist laut Emmanuel Todd nicht in der Lage, die gewaltigen Umwälzungen in der Welt zu erfassen. Um dies zu erkennen hält sich der französische Soziologe an die am weitesten entwickelten Länder. Die gegenwärtigen Schwierigkeiten Brasiliens und Chinas räumen mit der Illusion auf, die Geschichte werde fortan maßgeblich durch die Schwellenländer geprägt. Emmanuel Todd schreibt: „Die Spielregeln der wirtschaftlichen Globalisierung wurden in den Vereinigten Staaten, Europa und Japan festgelegt. Diese „Triade“ hat seit 1980 die jüngst alphabetisierten Erwerbsbevölkerungen der Dritten Welt in Arbeit gebracht, dadurch die inländischen Arbeitseinkommen gewaltig unter Druck gesetzt und – wie man sagen muss – auf diese Art weltweit die Profitraten erhöht.“ Wohl noch besser drückt sich die Vorherrschaft der alternden entwickelten Welt in einer anderen Fähigkeit aus. Emmanuel Todd ist einer der prominentesten Soziologen Frankreichs.

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Stephan Lessenich begibt sich auf die Spur des pätmodernen Kapitalismus

Mitte der 1970er Jahre veröffentlichte der amerikanische Soziologe Daniel Bell unter dem Titel „The Cultural Contradictions of Capitalism“ eine zeitdiagnostische Streitschrift zum Zustand der US-Gesellschaft. Stephan Lessenich erläutert: „Wenn man so will, dann sah Daniel Bell die USA seiner Zeit von einer Art nicht spätrömischer, sondern spätmoderner Dekadenz ergriffen, deren Wurzeln er in der systematischen – oder genauer: normativen – Entkopplung von Kultur und Ökonomie verortete.“ Durch die Entstehung und gesellschaftliche Verbreitung einer „postmaterialistischen“ Kultur, so Daniel Bells Kernaussage, werde die Funktionsfähigkeit der kapitalistischen Ökonomie systematisch unterminiert. Dabei sei es der der durch die lange Phase wirtschaftlicher Prosperität der Nachkriegszeit gewissermaßen selbst induzierte Verlust des die kapitalistische Wirtschaft seit ihren Anfängen durchdringenden und tragenden „Geistes“, der die stabile Reproduktion der industriekapitalistischen Gesellschaftsformation und ihrer Sozial- beziehungsweise Klassenstruktur grundlegend in Frage stellte. Dr. Stephan Lessenich ist Professor am Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität München.

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Die Welt ist von Friedrich Nietzsche und Karl Marx geprägt

Der berühmte deutsche Soziologe Max Weber sagte einst zu einem Studenten: „Die Redlichkeit eines heutigen Gelehrten, und vor allem eines heutigen Philosophen, kann man daran messen, wie er sich zu Friedrich Nietzsche und Karl Marx stellt. Wer nicht zugibt, dass er gewichtige Teile seiner eigenen Arbeit nicht leisten könnte, ohne die Arbeit, die diese beiden getan haben, beschwindelt sich selbst und andere. Die Welt, in der wir selber geistig existieren, ist weitgehend eine von Karl Marx und Friedrich Nietzsche geprägte Welt.“ Andreas Urs Sommer zitiert Oswald Spengler, der im Vorwort seines Bestsellers „Untergang des Abendlandes“ schreibt: „Von Johann Wolfgang von Goethe habe ich die Methode, von Friedrich Nietzsche die Fragestellungen.“ Andreas Urs Sommer lehrt Philosophie an der Universität Freiburg i. B. und leitet die Forschungsstelle Nietzsche-Kommentar der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.

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Über moralische Werte herrscht eine deprimierende Sprachlosigkeit

Viele Menschen hören sich oft so an, als seien ästhetische Urteile rein subjektiv, weshalb sie nicht öffentlich in Frage gestellt werden können. Diese Anschauung hat eine lange Tradition: „Über Geschmack lässt sich nicht streiten“, meinten schon die alten Römer. Matthew B. Crawford stellt fest: „Aber in Wirklichkeit denken wir anders. Wer in der Öffentlichkeit ein positives ästhetisches Urteil fällt, geht ein Risiko ein.“ Denn in Wirklichkeit sagt er: „Das hier ist gut.“ In einer 2008 durchgeführten Studie befragten die Soziologen Christian Smith und seine Kollegen von der University of Notre Dame 230 junge Amerikaner zur Bedeutung moralischer Werte für ihre Lebensführung. Sie fanden nichts so Spektakuläres wie moralische Verkommenheit, sondern stießen vielmehr auf deprimierende Sprachlosigkeit. Matthew B. Crawford ist promovierter Philosoph und gelernter Motorradmechaniker.

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Luxus geht über das Notwendige hinaus

Als Luxus bezeichnet man – und das scheint unstrittig wie sinnvoll zu sein – „jeden Aufwand, der über das Notwendige hinausgeht“. Dies ist die klassische Definition, die der Soziologe Werner Sombart in seinem berühmten Buch „Luxus und Kapitalismus“ von 1913 gegeben hat. Lambert Wiesing ergänzt: „Luxusgüter sind demnach die Dinge und Lebensweisen, mit denen die Vorstellungen vom Notwendigen, vom Sinnvollen, vom Normalen und Angemessenen gesprengt werden.“ Die Kontexte und die Situationen mögen sich ändern; was einmal Luxus war, muss nicht immer Luxus bleiben. Doch in jedem Fall gilt: Wenn etwas in einer Situation Luxus ist, dann deshalb, weil dieses Etwas mit einem übertriebenen, verschwenderischen, irrationalen und überflüssigen Aufwand verbunden ist. Prof. Dr. Lambert Wiesing ist lehrt an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena Bildtheorie und Phänomenologie und ist geschäftsführender Direktor des Instituts für Philosophie.

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Richard Schneebauer blickt hinter die Fassade der Männer

Viele Männer verstecken sich hinter einer Fassade aus Coolness und hippen Accessoires, hinter poliertem Machotum und derben Witzen – oder aufgesetztem Verständnis für die Welt der Frauen. Dennoch herrscht bei den meisten von diesen Männern ein tiefer Wunsch nach dem Gefühl, wirklich gebraucht zu werden, in einer Zeit, in der einem suggeriert wird, dass Frauen mittlerweile alles können, selbst Kinder zu kriegen geht mittels Samenbank. Richard Schneebauer stellt fest: „So rackern sich Männer ab, versuchen, alles besser zu machen als ihre Väter, können sich und Umfeld kaum zufriedenstellen und vor allem werden sie selbst nicht zufrieden. Der Druck auf sie steigt an allen Ecken und Enden. Irgendetwas Entscheidendes fehlt ihnen. Dr. Richard Schneebauer ist Soziologe und seit 17 Jahren in der Männerberatung tätig.

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Eifersucht unter Geschwistern ist ganz normal

Nur wer als Einzelkind geboren wurde, kann mit völliger Sicherheit davon ausgehen, das Lieblingskind seiner Eltern zu sein. Bei mehreren Kindern in einer Familie gilt, dass die Eltern eines bevorzugen. Diese Tatsache gilt heute in der Forschung als bestätigt. Der amerikanische Soziologe Karl Pillemer von der Corell University in Ithaca fand im Rahmen einer Untersuchung heraus, dass sich etwa 70 Prozent der befragten 700 Mütter einem ihrer Kinder näher fühlen. Und der deutsche Familienforscher Hartmut Kasten geht überhaupt davon aus, dass der „Favoritismus“ – so nennen Entwicklungspsychologen das Phänomen – noch weiter verbreitet ist. Er ist der Meinung, dass es in etwa 90 Prozent aller Familien ein Lieblingskind gibt. Wem die höchste Gunst der Eltern zuteil wird, soll sich aber phasenweise verändern.

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Jede Art von Kommunikation ist auf Normen angewiesen

Nun ist die Existenz von Gefühlsnormen unvermeidlich, wenn Menschen in Gesellschaften zusammenleben. Denn jede Art von Kommunikation ist auf Normen angewiesen. Problematisch wird es allerdings, wenn Menschen sich ihres Vorhandenseins nicht bewusst sind und es zum Konflikt zwischen inneren und äußeren Vorstellungen kommt. Ulrich Schnabel erläutert: „Dann erleben wir uns als emotional zerrissen und leiden darunter, dass Anspruch und Realität unseres Gefühlslebens massiv auseinander klaffen.“ Nirgendwo wird das deutlicher als in der Liebe, die als Herzens- oder Himmelsmacht hochgehalten wird und von Klischees, Vorstellungen und Idealen nur so umstellt sind. Alle Menschen stehen unter dem Einfluss jener Bilder und Geschichten, die das kollektive Gedächtnis dazu gesammelt hat: Romeo und Julia, Aschenputtel und der Märchenprinz, Humphrey Bogart und Ingrid Bergmann in „Casablanca“ … Ulrich Schnabel ist Wissenschaftsredakteur der Wochenzeitung „Zeit“ und Autor mehrerer erfolgreicher Sachbücher.

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Das Phänomen der Resonanz geht weit über die Liebe hinaus

Auf die Frage wie Hartmut Rosa zu seinem Thema „Resonanz“ gekommen ist, antwortet der Soziologe wie folgt: „Ich habe mich gefragt: Was sind eigentlich die sozialen Bedingungen dafür, dass wir uns in der Welt getragen und gehalten fühlen und uns nicht nur als ausgesetzt oder in die Welt geworfen?“ Das berühmte Motto von Johann Wolfgang von Goethe drückt das gut aus: „Hier bin ich Mensch, hier darf ich`s sein“. Getragen fühlen sich Menschen dort, wo sie sich mit ihrer Umgebung, ihren Mitmenschen, der Natur oder auch einer bestimmten Ästhetik lebendig verbunden fühlen. Hartmut Rosa lehrt Soziologie an der Universität Jena. Sein neues Buch trägt den Titel „Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung“ und ist im Januar 2016 im Verlag Suhrkamp erschienen.

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Die Scham und die Freiheit bedingen einander

Die Scham, die keinem Menschen fremd sein dürfte, ist ein urmenschliches Gefühl. Wer sich nicht zu schämen vermag, ist keine erwachsene Person, das bemerkte bereits Charles Darwin. Ulrich Greiner erläutert: „Scham bedingt Reflexivität, welche die Abweichung vom Ideal für den Handelnden erst einsichtig macht.“ Im Augenblick der Scham erkennt sich ein Mensch als eine Person, die einen Fehler gemacht hat oder zumindest meint, einen gemacht zu haben, und das Bild, das ihm jetzt entgegentritt, verletzt oder beleidigt jenes Bild, das er von sich selbst hat und er wahren möchte. Ulrich Greiner war zehn Jahre lang der Feuilletonchef der ZEIT. Als Gastprofessor lehrte er in Hamburg, Essen, Göttingen und St. Louis. Außerdem ist er Präsident der Freien Akademie der Künste in Hamburg.

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Identitätsfragen rücken ins Zentrum des politischen Diskurses

Das neue Philosophie Magazin 02/2017 beschäftigt sich im Titelthema mit der „Identität“. Denn in der gesamten westlichen Welt kehren Identitätsfragen ins Zentrum des politischen Diskurses. Der Kulturwissenschaftler Philipp Felsch sieht in vielen Ländern Europas, den USA und der Türkei den Rechtspopulismus auf dem Vormarsch. Diesen Entwicklungen und ihren Hauptakteuren ist eines gemeinsam: „Sie werfen der politischen Klasse ihrer jeweiligen Länder Versagen vor. Sie alle stehen für die Rückkehr eines aggressiven Nationalismus. Vor allem aber haben sie unsere kulturelle Zugehörigkeit, also unsere Identität zum Politikum gemacht. Die Frage „Wer sind wir? Ist in den Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung gerückt.“ Vielen Politikern und Anhängern fällt es bei der Debatte um eine Leitkultur schwer, die alte Erkenntnis der Kulturphilosophie zu beherzigen, nach der Kulturen keine statischen Substanzen, sondern in ständiger Veränderung befindliche Prozesse sind.

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Familien werden mit 200 Milliarden pro Jahr gefördert

Die Lebenshaltungskosten für ein Kind werden durch staatliche Hilfen wie Kindergeld nur zum kleineren Teil ausgeglichen. Zudem mindern Kinder das Einkommen einer Familie, wenn sie einen Elternteil, immer noch meist die Mutter, von der Erwerbstätigkeit oder vom beruflichen Aufstieg fernhalten. Die traditionelle Hausfrauenehe ist zum Auslaufmodell geworden. Immer mehr Frauen absolvieren eine aufwändige Ausbildung und wollen das Erlernte auch anwenden. Knapp 30 Prozent der Akademikerinnen sind angeblich kinderlos. Wolfgang Kaden fügt hinzu: „Viele Frauen, vor allem höher gebildete, bekommen heute ihr erstes Kind erst jenseits der dreißig, wenn sie bereits Berufserfahrung gesammelt haben – und belassen es bei diesem einen.“ Nicht nur in Deutschland ist das so, in den meisten Industriegesellschaften trifft dies ebenfalls zu. Wolfgang Kaden zählt zu den renommiertesten Wirtschaftsjournalisten Deutschlands.

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Eine niedrige Geburtenrate ist ein großer Gewinn

Folgende Stimmungslage ist in Deutschland weit verbreitet: Dem Land gehen wegen der wenigen Geburten die Arbeitskräfte aus; das Land verliert an Innovationskraft und degeneriert zum Altersheim; die Renten werden bald nicht mehr bezahlbar, der Staatshaushalt leidet Not. Auf die Frage der Demoskopen nach den größten Gefahren für Deutschland antworteten 56 Prozent: Dies sei die Alterung der Gesellschaft. Für wünschenswert halten die Mahner mindestens 2,1 Kinder pro Frau. Mit dieser Durchschnittsgröße sei der Bestand des Volkes gesichert. Von diesem Zielwert sind die Deutschen jedoch weit entfernt. Wolfgang Kaden kennt die Zahlen: „Sie brachten es 1995 gerade mal auf 1,25 Kinder. Zuletzt war der Jubel groß, als die Geburtenrate für 2015 auf 1,5 gestiegen war.“ Wolfgang Kaden gehört zu den renommiertesten Wirtschaftsjournalisten des Landes.

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Moderne Gesellschaften zeichnen sich durch Individualisierung aus

Der Prozess der Modernisierung hat zu einer grundlegenden Öffnung der Gesellschaft für neue, Lebens- und Ordnungsentwürfe geführt. Ernst-Dieter Lantermann erklärt: „Überkommene Traditionen und Gewissheiten werden infrage gestellt und büßen ihre Verbindlichkeit ein, die Offenheit für alternative, selbstbestimmte Lebensentwürfe jenseits traditioneller Bahnen durchzieht sämtliche Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens.“ Jeder Einzelne kann und muss sich für seinen Lebensweg selbst entscheiden. Der berühmte deutsche Soziologe Ulrich Beck hat für diese Entwicklung den Begriff „Individualisierung“ geprägt. Nach welchen Vorstellungen ein Mensch sein Leben gestalten, welche Lebensweise er für angemessen oder falsch hält, welche Ziele er verfolgt, welchen Vorlieben er nachgeht oder welche Abneigungen er pflegt, liegt immer mehr auch in seinen eigenen Händen, in seiner eigenen Verantwortung. Ernst-Dieter Lantermann war von 1979 bis 2013 Professor für Persönlichkeits- und Sozialpsychologie an der Universität Kassel.

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Der Narzissmus ist die Leitneurose der Gegenwart

Narzisst ist das Schimpfwort der Stunde. Narzissmus gilt als Leitneurose der emanzipierten Gesellschaft. Doch nicht jeder, der stört, ist auch gestört. Der Schweizer Moderator, Medienunternehmer und ehemalige Sat.1-Geschäftsführer Roger Schawinski schreibt in seinem neuen Buch „Ich bin der Allergrößte“, dass sich überall in den modernen Gesellschaften der Narzissmus ausbreitet. Vor allem geht es dabei um Männer, denen ihr Hochmut zum Verhängnis wurde. Wo man hinschaut, selbstverliebte Alphatiere, männliche und weibliche Egozentriker, Junge und Alte, die sich vor allem mit sich selbst beschäftigen. Im Fernsehen, im Internet, im Alltag. In den Reality- und Castingshows, in denen sich Möchtegernmodels und Traumtänzer in Szene setzen. In den sozialen Netzwerken, wo auf Instagram täglich 80 Millionen Bilder geteilt werden, unzählige davon mit dem wichtigsten Motiv eines digitalen Lebens: dem Selfie.

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Die Familie ist ein Nest mannigfacher Widersprüche

Im Titelthema des neuen Philosophie Magazins 01/2017 dreht sich alles um die liebe Familie und um die Frage ob sie eher Zuflucht oder doch nur noch eine Zumutung ist. Anhänger der traditionellen Familie sehen in ihr ein Refugium, einen wärmenden Schutzraum, ja ein Bollwerk in Zeiten des zunehmenden Leistungsdrucks. Für sie ist sie zudem ein Ort der Selbstvergewisserung, des Rückzugs und der Geborgenheit. Menschen, die der Familie eher kritisch gegenüberstehen, betrachten sie als Enge, Unfreiheit und als einen Nährboden für Neurosen, Traumata und tiefe Verletzungen. Für Chefredakteur Wolfram Eilenberger ist die Familie für die erdrückende Mehrheit der Menschen ein Nest mannigfacher Widersprüche, Zumutungen und konkreten Enttäuschungen: „Doch zeitlebens eben auch dies: ein Nest. Das heißt, ein Ort der Zuflucht, Geborgenheit, Eigentlichkeit.“

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Technik und Genetik sollen den Menschen verbessern

Aktuell arbeitet die Menschheit an einem Entwurf des perfekten Menschen. Es geht um die Verbesserung und Veränderbarkeit des Menschen in einem neuen Sinn. Konrad Paul Liessmann erklärt: „Nicht durch Erziehung und Bildung, nicht durch Moral, Aufklärung und eine humanistische Kultur soll die Verbesserung des Menschengeschlechts erreicht werden, wohl aber durch Technik und Genetik.“ Für den Soziologen Dierk Spreen befindet sich die moderne Gesellschaft schon jetzt in einer „Enhancement-Gesellschaft“, in der vor allem die Optimierung des Körpers durch Manipulationen, Zusammenschlüsse mit Mikromaschinen und Prothesen zu einem alltäglichen Phänomen geworden ist. Unübersehbar ist auch ein sich allmählich wandelndes Selbstverständnis des Menschen, ein Wandel des Menschenbildes. Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien und wissenschaftlicher Leiter des Philosophicum Lech.

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Roboter und Algorithmen geben das Tempo der Arbeitswelt 4.0 vor

Josef Käser, Vorstandschef von Siemens, warnt Aktionäre und Mitarbeiter vor neuen Erschütterungen: „Schnelligkeit, Anpassungsfähigkeit und Veränderungsbereitschaft sind mehr denn je gefordert. Unordnung ist die neue Weltordnung.“ Siemens ist überall. „Change“ heißt im Manager-Denglisch die alles beherrschende Überlebensweisheit der Wirtschaftswelt. Wolfgang Kaden blickt zurück: „Während in früheren Zeiten, bis in die Siebziger des vorigen Jahrhunderts hinein, die Unternehmen vielleicht alle zehn Jahre ein Reformprogramm durchliefen, löst heutzutage eine Umorganisation die nächste ab.“ Man nennt das: „Never stop reorganizing.“ Und kaum einer fragt, ob die unmittelbar Betroffenen, die Mitarbeiter, dieses Tempo mitgehen können oder wollen. Die Geschwindigkeit und Häufigkeit von Veränderungen wird wie ein Naturgesetz vorgegeben – vom Wettbewerb, von der Technik, von der Beraterzunft. Wolfgang Kaden gehört zu den renommiertesten Wirtschaftsjournalisten Deutschlands.

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